Vor 40 Jahren erschien Michael Endes „Momo“ und wurde als Kinderbuch zum Welterfolg. Wie ernst es dem Autor jedoch mit seiner unterschwelligen Systemkritik war, zeigt sich erst beim Wiederlesen mit großem zeitlichen Abstand.

Es gibt Kunstwerke, die ächzen derart unter der Last der eigenen Rezeptionsgeschichte, dass man sie fast nicht mehr unbefangen wahrnehmen kann. Wer würde nicht gelangweilt abwinken, wenn es etwa um Mozarts „Kleine Nachtmusik“ geht oder um Leonardos „Mona Lisa“? Abgenudelt, lautet dann das Verdikt. Umso dringender ist es, sich neu auf diese Werke einzulassen. Denn abgenudelt sind nicht sie selbst, sondern unser Blick auf sie.

Dieses Schicksal teilt auch Michael Endes Kinderbuch „Momo“, das vor 40 Jahren erschien und sich längst einen festen Platz unter den deutschen Kinder- und Jugendbuchklassikern erobert hat. „Momo“ ist in 46 Sprachen übersetzt worden; mehr als zehn Millionen Exemplare seien weltweit verkauft worden, teilt der Stuttgarter Thienemann Verlag mit.

Man braucht das Buch nicht einmal gelesen zu haben, es gehört mittlerweile zu unserem kollektiven Bilderschatz. Ob es um die Sommerzeit geht, um Burn-out oder um Lehrpläne – wann immer von Zeitmangel und der Beschleunigung der postmodernen Lebenswelt die Rede ist, müssen die schon fast sprichwörtlichen grauen Herren herhalten.

Die pressen, die Zigarre im Mundwinkel ist dabei unverzichtbar, im Auftrag der mächtigen Zeitsparkasse die Menschen in ein gnaden- und herzloses System der Effizienz. Wenn der Agent XYQ/384/b dem Herrn Fusi vorrechnet, wie viele Millionen Sekunden aufs Leben gerechnet den Friseur seine Fürsorge für den Wellensittich oder seine täglichen Besuche bei dem gelähmten Fräulein Daria kosten, dann kann man schon mal das Gruseln kriegen. Und erst recht bei dem Gedanken daran, wie sicher die geballte Rhetorik ihr Ziel erreicht. „In unserer modernen Welt haben Geheimnisse nichts verloren“, weist der Agent den erschrockenen Fusi zurecht. Perfekt wird die Indoktrination dadurch, dass die Opfer sich, sind sie einmal eingeknickt, an nichts mehr erinnern.

Für die grauen Herren ist das Mädchen Momo die größte Bedrohung

Dumm nur, dass den grauen Herren das Mädchen Momo in die Quere kommt. Herkunftslos und zufrieden mit ihrer Wohnhöhle in einem verlassenen Amphitheater am Rande einer italienischen Großstadt, lebt sie gänzlich im Augenblick und tut das, was sie am besten kann und was ihr bunt zusammengewürfelter Freundeskreis an ihr liebt: zuhören. Das ist natürlich Gift für die Pläne der grauen Herren. Auch Momo spürt die Kälte, die von jedem dieser Klone ausgeht – doch trotz ihrer Angst bringt sie das Exemplar, das sie an einem Abend zur Mitwirkung ermahnen soll, mit einer mitfühlenden Frage aus der Fassung: „Hat dich denn niemand lieb?“ Stammelnd gesteht ihr der graue Herr sein Geheimnis. Mission gründlich verfehlt. Kein Wunder, dass die grauen Herren Momo als ihre größte Bedrohung identifizieren.

Vordergründig handelt der Roman davon, wie wichtig es ist, sich Zeit zu nehmen, um sich anderen und besonders Kindern zuzuwenden und sich sinnstiftend mit der eigenen Umwelt verbunden zu fühlen. Das führt Ende im Guten wie im Traurigen so explizit vor, wie kindliche Leser es nun einmal brauchen. Trauben von Kindern lauschen Gigi Fremdenführer, wenn der wieder eine seiner sprühenden Geschichten erzählt, etwa die vom Goldfisch: Statt sich wie versprochen mit dem Heranwachsen in pures Gold zu verwandeln, wächst er einfach weiter und sprengt jedes Behältnis. Er ist nämlich ein Walfisch. Umso bitterer, dass Gigi seine Gabe abhanden kommt, als er von Gnaden der grauen Herren eine große Karriere als Fernsehunterhalter macht. Der Wirt Nino wird ganz nervös, als Momo ihn in seinem neuen Schnellrestaurant tief besorgt nach ihren Freunden fragt. Sogar Momos väterlichen Freund Beppo Straßenkehrer, der sich seine Arbeit in geradezu buddhistischer Weisheit einteilte, kriegen die grauen Herren dran, indem sie ihm vorgaukeln, er müsse von der gesparten Zeit Momo freikaufen. Es ist herzzerreißend, wie Beppo in den Strudel einer in ihrer Hektik an Fritz Langs „Metropolis“ erinnernden Stadt gerät, in der sich niemand mehr Zeit für ein Schwätzchen nimmt. Und das in Italien.

Schon von der Anlage her steht die Zeit im Zentrum des Buchs. Mitten in der größten Bedrohung lotst die Schildkröte Kassiopeia Momo mittels variabler Leuchtbuchstaben auf ihrem Rücken zum Reich des Meister Hora, des Verwalters der Zeit. Dieses Mädchen ist kein normales Kind mit schnöden materiellen Wünschen und frecher Klappe. In ihrer überpersönlichen Klarheit hat sie etwas von einer Erlöserfigur. Wenn Momo mithilfe der Schildkröte gleichsam zum Allerheiligsten vordringt, schwingen Urmythen wie die Legende vom heiligen Gral mit.

Ende überwölbt seine fantasievollen Bilder mit einem enormen Resonanzraum, ohne sich indessen auf bestimmte Stoffe festzulegen. Das muss er auch nicht – doch wer will, kann darin eine Ungenauigkeit des Denkens erblicken. Als gefühlig, eskapistisch, gar „aus zweiter Hand“ haben Kritiker Endes Buch denn auch seinerzeit gegeißelt; heute würde man seine magischen Romanwelten umstandslos in die Fantasy-Abteilung verweisen.

Doch der Autor wollte seine Leser offenkundig nicht nur mit dem arg schlichten Imperativ „nutze den Tag“ füttern. Jahrzehnte nach Erscheinen des Buchs tritt etwas anderes verblüffend deutlich hervor: nämlich die Hellsicht, mit der es den merkantil ausgerichteten Zustand unseres Gemeinwesens aufspießt. Da ist in salbungsvollem Tonfall einer von der „großen Gemeinde der Zeit-Sparer“ die Rede. Höhepunkt ist das nächtliche Tribunal der grauen Herren, eine Art Politbüro-Sitzung des Zeitkapitalismus. Wie die Beteiligten einander das Wort im Munde herumdrehen, wie die Sprache bei ihnen zu Plastikworten verkommt, das ist reinste Satire – und als solche übrigens für Kinder nicht geeignet.

Ende selbst hat sich nie als reinen Kinderbuchautor verstanden, obgleich er diesen Stempel seit seinem Welterfolg „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ nicht mehr loswurde. Wie Momo ist auch dieser Jim ein Findelkind, das seine Umwelt mit seiner Warmherzigkeit bezaubert. Dass auch seine Abenteuer von Lummerland bis Mandala eine zweite, hochpolitische Ebene haben, hat die Literaturwissenschaftlerin Julia Voss nachgewiesen, indem sie die Geschichte als Gegenentwurf zur Evolutionstheorie Darwins und deren Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten interpretierte. Wer das weiß, kann nie mehr unschuldig von reinrassigen und Halbdrachen, von „Schande“ und den Stockschlägen der autoritären Frau Mahlzahn lesen.

Ende hat für Johannes Schaafs „Momo“-Verfilmung im Jahre 1986 das Drehbuch geschrieben und das Projekt im Detail abgesegnet. Die Besetzungsliste von John Huston bis Armin Mueller-Stahl liest sich wie ein „Who is who“ der damaligen internationalen Filmszene, und eine passendere Darstellerin als die damals elfjährige Radost Bokel hätte man sich nicht wünschen können. Dennoch sperrt sich etwas in dem, der beides kennt, Film und Buch: Allzu minutiös pinselt Schaaf Endes fantasievolle Bilder aus. Ganz anders der Autor selbst, der die Erstausgabe eigenhändig illustriert hat. Seine Vignetten und Bilder sind federleichte, poetische kleine Kommentare zum Geschehen.

Kunstwerke ertragen es eben nicht, wenn man sie festschreibt. Womöglich altern sie im Kopf des Betrachters erst und nur dann. Dagegen hilft nur eines: wieder lesen.