Leander Haußmann macht aus dem „Polizeiruf 110: Kinderparadies“ ein atmosphärisches Krimidrama mit einem grandiosen Matthias Brandt

Tai-Chi und Shakespeares „Sommernachtstraum“ für Zweijährige? Klingt ziemlich grotesk, klingt nach überambitionierter Elternschaft. Ein modernes Phänomen, nicht selten mit einem bitteren Beigeschmack verfehlter Liebe. Genau in dieser Schnittmenge, im Milieu überehrgeiziger Mittelstands-Kleinfamilien und dem Gewand einer Groteske spielt der neue Münchner „Polizeiruf“.

Nach Dominik Graf, Hans Steinbichler, Hendrik Handloegten oder zuletzt Jan Bonny ist es den Produzenten wiederum gelungen, einen großen Regisseur ins Münchner Boot zu holen: Leander Haußmann. Haußmann kommt vom Theater – zweimal hat er den „Sommernachtstraum“ inszeniert, 1992 am Nationaltheater Weimar und zehn Jahre später am Berliner Ensemble – mit aus dem Off gesprochenen, düsteren Versen aus dem „Sommernachtstraum“ setzt sein Film ein. Ein winziges Mädchen mit elfenhaftem Kopfputz lauscht in ängstlicher Anspannung diesen Worten, deren Sinn sie noch gar nicht erfassen kann. Die zweijährige Lara (Doris Marianne Müller) hat Geburtstag, gefeiert wird im „Kinderparadies“, einem elitären Münchner Kinderladen, den ihr Vater Joachim Grand (Johannes Zeiler) mit viel Engagement und ebenso so viel Geld aufgebaut hat. Lange haben Erzieher und Leitung an dieser Puppenspielaufführung gearbeitet, die nun zum Desaster geraten soll.

Die Aufführung ist eine von insgesamt vier fiebrig mit der Kamera eingefangenen, zeitlich verschränkten Szenen, mit denen der neue Fall anhebt: der Kinderladen, kurz bevor er durch ein Sondereinsatzkommando der Polizei gestürmt wird, ein Stuhlkreis von Eltern und Erziehern, die einen Kinderreim einstudieren, eine Sexszene, die jäh vom Gequäke aus einem Babyfon unterbrochen wird, und Hanns von Meuffels (Matthias Brandt), der mit Ohrstöpseln und seiner Lieblings-Ablenkungs-Musik nachts zum Tatort fährt.

Ella Werken (Lisa Wagner), die Frau aus der Sexszene und Mutter von Lara, wurde brutal ermordet. Eine Verletzung, die zu einer stark blutenden Kopfwunde geführt hat, war nicht die Todesursache, der Täter hat sie danach mehrfach mit einem Auto überfahren. „Diese Wut“, murmelt von Meuffels mit Blick auf den Gesichtsausdruck der Toten, und „sie kann es nicht fassen“.

Dass Psychologie und Suggestion eine so große Rolle spielen in von Meuffels’ Fällen, ist ihr Markenzeichen und ihre Stärke. Denn wie kaum ein anderer TV-Kommissar ist der von Matthias Brandt so grandios verkörperte von Meuffels ein leeres Zentrum. Erst seine teils ins Abstruse driftenden Fälle laden ihn mit Sinn auf. Von Meuffels steht für Sensibilität und das Tasten nach einer Haltung mit der sich das immer diffusere Verhältnis von Gerechtigkeit und gesellschaftlicher Realität leben lässt.

Mit einem fast tonlosen „Haben Sie das etwa vom Tatort entfernt?“ – gemeint ist die Tatwaffe, angesprochen ein tölpelhafter Streifenpolizist – und abschließend mildem „Na, dann bringen Sie es mal schnell zurück“, endet eine von vielen Szenen, die keine Relevanz für die Ermittlung haben, sondern lediglich der Charakterisierung des Kommissars dienen.

Als ewig suchender und scheiternder Gutmensch, als Bild des Jammers, verzweifelt über die eigene Fehlentscheidung blieb von Meuffels am Ende des letzten, großartigen Münchner Polizeirufs „Der Tod macht Engel aus uns allen“ zurück. Kann die neue Folge „Kinderparadies“ dies toppen? Nein! Das Milieu mit seinen Wohlstandsproblemchen ist zu banal. Man mag sie alle nicht leiden und mitleiden geht gar nicht. Das beginnt mit dem Stuhlkreis. Die Perspektive ihrer Kinder wollen Eltern und Erzieher einnehmen. Doch ehe das Liedchen sitzt, mutiert eine Mutter zur Furie, die den „gestörten“ Bruno anprangert, einen zweijährigen „Beißer“. „Ich werde meinem Kind keinen Maulkorb verpassen“, kontert die Mutter des kleinen Unholds, Valeska Steier (Annika Kuhl), die als Kinderladenleiterin doppelt in der Pflicht steht.

Die Stimmung ist explosiv, da schwelen und gären ganz andere Dinge im Hintergrund. Laras Vater ist seiner unrühmlichen Vergangenheit als gewalttätiger Ehemann mit diversen Therapien begegnet und hat gelernt, seine Wut mit dem Basteln von Handpuppen zu kompensieren. Laras Mutter schikaniert jeden, nur ihr „Prinzesschen“ bleibt verschont. Neid, Intrigen, Fremdgehen – Lug und Trug an allen Fronten, das steht hinter ihrem Überbetreuungsort, an dem sich die ganze Bagage festkrallt und damit die eigenen Defizite unter den Teppich kehrt.

Leander Haußmann gelingt mit seinem TV-Debüt ein außergewöhnlich atmosphärisches Krimidrama. „Kinderparadies“ fühlt sich wie eine One-Man-Show an. Gut so, denn man kann sich kaum sattsehen an diesem von Meuffels/Brandt. Eigentlich kann er ermitteln, was er will. Sogar seinen vergötterten Bob Dylan tauscht er gegen „Peter und der Wolf“, als er unfreiwillig die kleine Lara am Hals hat und sich damit auch noch als Kinderversteher outet.

„Polizeiruf 110 – Kinderparadies“ So 20.15 ARD