Die norwegische Bestsellerautorin Anne Holt präsentiert ihren neuen Thriller „Schattenkind“ beim 7. Hamburger Krimifestival auf Kampnagel

Aus dem Einfachen das Besondere herauszukitzeln, diese Fähigkeit beherrscht die norwegische Krimiautorin Anne Holt so gut wie nur wenige. Sie fährt keine Ermittlermannschaft in Klassengröße auf, braucht keine Koffer voll schussbereiter Waffen und lässt nicht alle drei Seiten einen neuen Hauptverdächtigen durchs Bild tanzen. Holt baut Spannung auf, indem sie eine Handvoll Personen unter die Lupe nimmt, sie geradezu heranzoomt und ihre (oft nur allzu menschlichen) Schwächen offenlegt.

Im neuen Roman „Schattenkind“, der Mitte Oktober erscheint, rückt sie eine Kleinfamilie in den Mittelpunkt, der das Scheußlichste passiert, was man sich in dunklen Nächten vorzustellen wagt. Der achtjährige Sander, ein schwer zu bändigendes, oft verhaltensauffälliges Kind, ungewöhnlich groß für sein Alter und zum Einzelgänger geboren, stürzt im Wohnzimmer von einer vier Meter hohen Leiter und stirbt. Mit seltsam verdrehten Gliedmaßen liegt er in den Armen seiner Mutter, als die Polizeipsychologin Johanne Vik, eine alte Bekannte, bei der Familie eintrifft. Dass hinter dieser Tragödie ein grausames Verbrechen steckt – dieser Anfangsverdacht, der mehr ein Bauchziehen der Ermittlerin ist, verstärkt sich in den folgenden Tagen immer mehr. Es scheint, als hätten alle geahnt, dass Sander etwas zustoßen würde. Dass ihm kein Glück im Leben vergönnt sein würde.

Holt schreibt in knappen, beinahe kargen Sätzen. Mit wenigen, eindrücklichen Bildern gelingt es ihr, eine Gänsehautatmosphäre heraufzubeschwören, die so kalt ist, dass man heimlich ein paar Kommissarwitzeleien auf dem Revier herbeisehnt. Da sind die leeren Wände im Haus der Familie, nachdem sämtliche Spuren des Sohnes verwischt sind. Auf dem Kommissariat windet sich der Polizei-Auszubildende, der angehalten wird, den Unfall des Jungen möglichst schnell abzuschließen und zu den Akten zu räumen, der jedoch spürt, dass es so einfach nicht sein kann. Sanders Leiche kommt zum falschen Zeitpunkt; im Land gibt es derzeit Wichtigeres. Die Mutter des toten Jungen sitzt im stillen Haus vor dem Fernseher und starrt auf die Nachrichtenbilder, ohne diese zu verstehen. Die Welt da draußen geht sie nichts mehr an. „Sie konnte von ihr aus von einem verrückten Extremisten aus den Angeln gehoben werden, Ellen hatte mit ihrer eigenen Katastrophe genug zu tun“, schreibt Holt.

Es sind nicht irgendwelche Nachrichtenbilder, die in diesen Tagen um die Welt gehen. Es sind die Bilder vom wohl schrecklichsten Massaker der letzten Jahre, dem Attentat von Utøya im Juli 2011, bei dem insgesamt 77 Menschen ums Leben kamen, größtenteils Teenager. Vor dem Hintergrund des Anschlags hat Holt ihren neuen Roman angesiedelt. Dabei geht sie nicht in Details, aber macht eine Stimmung im Land fassbar, die sich auf das Gemüt jedes Einzelnen überträgt. Eine Welle des Schmerzes hat sich breitgemacht; wenn morgen die Sonne nicht mehr aufgehen würde, niemand würde sich ernsthaft wundern. Psychologin Johanne Vik, die hier zum letzten Mal ermittelt, ist in dieser feindlichen Umgebung, in der es vor toten Kindern nur so wimmelt, persönlich angeschlagen: Sie ist ungewollt schwanger (von ihrem Lebensgefährten, Kommissar Yngvar Stubø), fühlt sich für ein Kind zu alt, zu mutlos.

„Schattenkind“ ist ein beklemmendes, ungeheuer spannendes Buch, das dorthin zielt, wo wir uns eigentlich so sicher fühlen: mitten hinein in den Kreis der Familie.

Anne Holt: „Schattenkind“, Piper Verlag, 336 Seiten, 19,99 Euro, erscheint am 15. Oktober

Anne Holt liest, dt. Text Laura de Weck: Do 31.10., 20 Uhr, Krimifestival Kampnagel, Karten zu 12 Euro bei Heymann und unter T. 040/30 30 98 98