Die Hamburgerin Jennifer Teege ist die Enkelin des SS-Mannes Amon Göth. Lange wusste sie nichts über ihre Herkunft, jetzt stellt sie sich die Frage, ob ein Toter noch Macht über die Lebenden hat

Jennifer Teege ist eine glückliche Frau, den Eindruck macht sie jedenfalls. Nach allem, was man über sie weiß, ist das nicht unbedingt selbstverständlich, denn Teege ist die Hauptperson einer Geschichte, die so unwahrscheinlich ist, dass man sie eigentlich kaum glauben kann.

In einer Kurzversion geht sie so: Eine Mittdreißigerin, die Job, Mann, Kinder hat und keine finanziellen Sorgen, ist weniger zufrieden mit ihrem Leben, als sie eigentlich sein müsste. Eigentlich fehlt ihr nichts, sie wird aber immer wieder von Depressionen heimgesucht. Krisen durchlebt sie seit ihrer Jugend, Angst vor dem Unbekannten hat sie trotzdem nicht: Sie lebte in Paris, studierte viele Jahre in Israel.

Dann entdeckt sie, dass Amon Göth ihr Großvater ist.

Ein Mann, der für sie wenig mehr als ein Name ist, aber ein schrecklicher: Sie kennt ihn wie viele andere aus Steven Spielbergs Holocaust-Film „Schindlers Liste“, in dem der gewalttätige KZ-Kommandant Göth der Gegenspieler der Heldenfigur Oskar Schindler ist. Jennifer Teege ist, das ist schwer zu übersehen, die Tochter eines Afrikaners. Es scheint vollkommen absurd, sich eine Verbindung zwischen ihr und dem als „Schlächter von Plaszów“ in die Geschichtsbücher eingegangenen SS-Mannes vorzustellen. Eine Gedanke, den man sich als Unbeteiligter fast verbietet. Und wie erst sollte Teege, 1970 in München geboren, darauf kommen, dass Göth, der verantwortlich war für den Tod Tausender, der Vater ihrer Mutter ist und damit ihr Großvater?

Ihr Leben war nicht immer leicht, sie schleppte viele Fragen mit sich herum

Wer Jennifer Teege heute zum Gespräch trifft, der merkt nichts von der Erschütterung ihrer Existenz, die die verhängnisvolle Entdeckung bedeutete. „Es geht mir gut, ich bin emotional zur Ruhe gekommen“, sagt sie. Es ist ein wolkiger Septembertag in Rotherbaum, früher hat sie mal hier in der Nähe gelebt. Gegenüber residiert der NDR. Mit Journalisten hat die groß gewachsene, schlanke Frau derzeit viel zu tun, weil sich jetzt alle für ihre Geschichte interessieren. Teege hat zusammen mit der „Stern“-Journalistin Nikola Sellmair ein biografisches Buch geschrieben, sie holt es kurz aus ihrer Tasche, in ihren Augen blitzt Autorenstolz.

„Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen“ heißt dieses Buch. Ein reißerischer Titel, sicherlich, aber nur so bekommt man Aufmerksamkeit in einer Gesellschaft, deren Bewusstseinsspanne eng bemessen ist. Das Buch könnte auch ganz anders heißen, denn es erzählt vor allem auch von der Identitätssuche einer Frau, die ihre Wurzeln nicht kannte. Die Göth-Sache stellt, wenn man so will, eine ungeheuerliche Dramatisierung des ohnehin nicht immer leichten Lebens Jennifer Teeges dar.

Nicht leicht, weil sie so viele Fragen mit sich herumschleppte, oft mehr unbewusst als bewusst, die ihre unbekannte Herkunft betrafen – wie viele Menschen, die als Kind adoptiert wurden. Sie hatte Therapien gemacht, sich professionelle Hilfe gesucht, um ihre Identität zu finden, um „lebensfähiger“ zu werden, wie sie einmal sagt; heute kann sie darüber lachen, wenn sie erzählt, dass sie ernsthaft einst zu ihrem ersten Psychologen sagte, sie habe ihn aufgesucht, weil sie Liebeskummer habe. Es gab eine Zeit, da wusste sie nicht im Entferntesten, warum und woran sie litt.

Es war ein Tag im Jahr 2008, der dann das Leben der immer wieder labilen Teege komplett auf den Kopf stellte. In der Zentralbibliothek am Hühnerposten stieß sie zufällig auf ein Buch, das die Lebensgeschichte Monika Göths erzählte – ihrer Mutter also, die Jennifer zunächst in ein Kinderheim und dann zur Adoption freigab. Teege hatte ihre Mutter Jahre nicht gesehen, seit sie sieben war, lebte sie bei ihrer Adoptivfamilie. Aber vorher, das wusste sie, hatte sie noch den Namen „Jennifer Göth“ auf ihre Schulhefte geschrieben.

Sie ist die Enkelin eines Massenmörders. Jennifer Teege war, so schildert sie es in ihrem eindrücklichen Buch, zunächst wie paralysiert von der Tatsache, dass Amon Göth in ihr Leben trat: Sie konnte einige Wochen kaum aus dem Haus. Es kam ihr so vor, als sei sie unter falschem Namen unterwegs gewesen. Und sie merkte recht schnell, dass sie aus dieser Malaise nur herauskommt, wenn sie der Geschichte ihrer Herkunftsfamilie nachforscht.

Es hängt natürlich alles mit allem zusammen in diesem mit einem Male noch viel komplizierteren Leben der Jennifer Teege. Wenn sie nun nach Krakau reiste, wo Amon Göth ab 1943 seine unmenschliche Herrschaft über ein kleineres Konzentrationslager ausgeübt hatte, wenn sie nun an ihrer Großmutter, der Mitläuferin, litt oder wenn die Wunde der verhinderten Mutterliebe wieder aufbrach, stellte sie ja auch ihr Aufwachsen in der Adoptivfamilie in Frage.

Mit aller Macht brach die Kindheit wieder über Teege hinein: Sie musste sich wieder mit der leiblichen Mutter auseinandersetzen, zu der sie bis ins Teenageralter noch regelmäßig Kontakt hatte. Und die Großmutter war für die kleine Jennifer eine wichtige Person, sie fühlte sich wohl bei der adretten älteren Dame. Ruth Irene Kalder, die Göth übrigens ausgerechnet über den Judenretter Schindler kennenlernte, war eine schillernde Gestalt, deren Rätselhaftigkeit am Ende auch für Teege nicht auflösbar ist. Man merkt ihr in jeder Zeile an, die sie über die Großmutter in ihrem Buch schreibt, dass sie deren Integrität irgendwie retten will.

Aber es bleibt, es kann nur der Unglaube darüber bleiben, dass Kalder, die in Göth vernarrt war, die ihn liebte, tatsächlich von nichts etwas mitbekommen haben wollte. Dass Amon Göth nicht nur ein sadistischer Mann war, der seine Gefangenen quälte, sondern dass er sie tausendfach umbrachte oder umbringen ließ. Wer erinnert sich nicht an den „Frühsport“, den der in „Schindlers Liste“ von Ralph Fiennes gespielte Teufel machte, wenn er von seiner Villa aus immer wieder Juden in „seinem“ Lagerkomplex abknallte?

Das ist, über einen weiten Zeitraum der vergangenen fünf Jahre, die Technik Teeges gewesen, mit dem biografischen Wahnsinn ihrer Existenz umzugehen: alles aufzuarbeiten, indem sie es an sich heranließ. Das war mit noch mehr verbunden als nur dem Besuch der historischen Stätten in Polen. Sie fuhr auch in das Kinderheim, in dem sie die ersten Jahres ihres Lebens verbrachte. Und sie traf ihre Mutter nach Jahren wieder. Sie konfrontierte ihre Adoptiveltern, die freilich genauso wenig wie sie über die Verwandtschaft mit Amon Göth wussten, mit dem Vorwurf, dass sie mit ihr grundsätzlich nie über irgendetwas ihre Herkunft betreffend gesprochen hätten. „Das war ein Fehler“, sagt Teege, „aber damals ging man mit solchen Dingen in Familien mit adoptierten Kindern noch anders um“.

Sie hat sich ihren israelischen Freunden offenbart, als sie den Mut dazu fand

Sie hat in ihrem Buch alles beschrieben, ihre Gefühle und die Fassungslosigkeit, mit der sie dem gefundenen Vorfahr begegnete: „Was soll ich, mit meiner dunklen Haut, mit Freunden in der ganzen Welt, bloß mit diesem Großvater? War er es, der meine Familie zerstörte? Fiel sein Schatten erst auf meine Mutter, schließlich auf mich? Kann es sein, dass ein Toter immer noch Macht hat über die Lebenden? Haben die Depressionen, die mich seit langem quälen, auch mit meiner Herkunft zu tun? Dass ich fünf Jahre in Israel gelebt und studiert habe – war das Bestimmung oder Zufall?“

Sie hat sich ihren israelischen Freunden offenbart, als sie den Mut dazu fand. Ihr Großvater hatte Juden umgebracht, sie hatte im jüdischen Staat gelebt, Hebräisch gelernt – ist das eine rabenschwarze Pointe? Teege hat, so ist es nachzulesen in „Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen“, schnell die Sache für sich geklärt: Die Bösartigkeit Amon Göths hat sich nicht genetisch vererbt. Aber die Figur hat doch das Schicksal mehrerer Personen verändert. Göths Lebensgefährtin Ruth Irene Kalder hielt sein Andenken in Ehren. In ihrer Wohnung hing ein Foto des SS-Mannes. Aber ihre Tochter Monika ließ sie lange im Unklaren über die Rolle Göths im Zweiten Weltkrieg. Das ging damals in der ignoranten Nachkriegszeit sehr gut, das mit dem Verschweigen. Es wird mit ihrer Auseinandersetzung mit dem Nazi-Vater zu tun haben, die Monika Göth dann eine unmögliche Mutter werden ließ, die ihre Kind bald weggab. Gezeugt hatte sie mit einem nigerianischen Einwanderer.

Ihre Selbstunsicherheit, die identifikatorische Gefangennahme durch die Geschichte der Eltern, gipfelte in dem Buch, das Monika Göth schrieb, und in öffentlichen Auftritten. Ihre Tochter Jennifer wollte sie, so erklärte sie ihr, vor der Vergangenheit schützen, weshalb sie ihr bei den spärlichen Kontakten nie die Wahrheit erzählte.

Nichts hätte falscher sein können, sagt Jennifer Teege heute; sie glaubt, dass sich das Familiengeheimnis all die Jahre wie ein Schatten auf ihre Seele gelegt hatte. Sie sei erst jetzt, erklärt sie, „völlig frei von traurigen Phasen – die Frage, wo ich her komme, war lange Zeit ungelöst, jetzt weiß ich es“.

Es ist nur eine milde Form der Irritation, die einen überkommt, wenn man sich diese seltsame Logik bewusst macht: Dass da eine Frau sich vielleicht zum ersten Mal ganz kennt, wo sie eine ganz und gar schockierende Erkenntnis über ihr Herkommen erlangt hat.

Was wie ein Albtraum klingt und wohl auch einer gewesen sein mag, brachte Teege freilich paradoxerweise näher zu sich selbst. Sie vertrieb ihre Dämonen, indem sie einen Dämonen in ihrem Stammbaum fand. Denn es ist ja auch eine hübsche und optimistische Lehre, die man mit Jennifer Teege aus ihrer Geschichte ziehen kann: Jeder muss sich selbst kennen lernen und sein eigenes Leben führen. Es ist wichtig zu wissen, woher man kommt, aber man hat mit der Geschichte seiner Eltern oder Großeltern nicht so viel zu tun, dass man verantwortlich ist für ihre Verbrechen.

„Da gibt es eine wichtige symbolische Ebene, die mich vielleicht gerade betrifft: Ich bin allein schon äußerlich das komplette Gegenteil meines Großvaters“, sagt Teege. Das ist ein Trost für sie, die sich genau dadurch von zerquälten, lebenslang anklägerischen Nazi-Kindern wie Niklas Frank (dessen Vater Hans Generalgouverneur im besetzten Polen war) unterscheidet – sie, die allerdings auch „nur“ Enkelin, nicht Tochter ist.

Es fällt auf, dass Teege, die seit vielen Jahren in Hamburg lebt, das Thema Göth nur am Rande, fast schon beiläufig behandelt. Es geht ihr jetzt mehr um den Aspekt der Selbstfindung. Sie hat sich allerdings in einem Maße, der eben nicht alltäglich ist, die deutsche Geschichte anverwandelt in den vergangenen Jahren.

Ihr Buch endet mit der Schilderung einer Fahrt nach Krakau, wo sie im Beisein israelischer Schüler einen Kranz am Mahnmal von Plaszów niederlegt. Einer der jungen Israelis ist der Sohn einer engen Freundin, und für Jennifer Teege endet hier der Weg zu sich selbst, den sie durch unwegsames, historisches Geläuf nehmen musste.

Diese Geschichte, das bin ja gar nicht ich, hat sie oft gedacht. Aber auch, wenn sie nicht Amon Göth ist, gehört diese Geschichte eben doch zu ihr. „Ich wollte sie nicht mit ins Grab nehmen, sie ist erzählenswert. Ich habe selbst immer von anderen gelernt, vielleicht lernen andere von mir“, sagt Jennifer Teege.

Jennifer Teege: „Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen“. Rowohlt. 272 S., 19,95 €