Markus Gabriel, Jahrgang 1980, lehrt seit 2009 an der Universität Bonn und gilt als jüngster Philosophieprofessor Deutschlands. In seinem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ koppelt er die Krise der Demokratie an eine Erkenntnistheorie. Am 28. September diskutiert er mit „Zeit“-Redakteurin Nina Pauer zum Thema „Hunger nach Realität – Wir brauchen mehr Wir!“ (21.30 bis 22.45 Uhr) auf Kampnagel.

Hamburger Abendblatt:

Herr Gabriel, warum brauchen wir mehr Wir?

Markus Gabriel:

Wir können eine Gemeinschaft gar nicht denken ohne gemeinsame Interessen. Wir denken ein Interesse immer als eines, das eine Person hat, sei es Wein trinken oder Auto fahren, und glauben, dass Gemeinschaftsbildung darin besteht, Interessen abzustimmen. Wir befinden uns aber von vornherein in einer Wir-Gemeinschaft, in der jeder Einzelne seine Interessen bestimmen darf. Allerdings sind die Vorstellungen von dem, was wir wollen, vorrangig gegenüber dem, was der Einzelne will.

Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang den arabischen Frühling?

Gabriel:

Darauf haben wir reagiert wie auf einen Hollywoodfilm. Das sagt viel über uns aus. Wir sehen jetzt, dass es sehr komplexe soziale Kräfte gibt im Nahen Osten und in Nordafrika, dass Kämpfe um Ressourcen und Religionen stattfinden.

Dort ist es gelungen, eine soziale Bewegung zu schaffen, hierzulande herrscht Krisenstimmung, warum?

Gabriel:

Viele haben den Eindruck eines gewissen Stillstandes. Man kann sagen, das ist stabil, wir haben das Gute. Wir glauben, dass unsere egoistischen Interessen ja von den amtierenden Regierenden bedient werden. Die Frage ist, geht das auch so weiter? Zu glauben, wir würden schon gut regiert, ohne unser Kreuz bei der Wahl zu setzen, damit stecken wir in der Krise.

Wie steht es mit der Solidarität im Netz, die auch „Liquid Democracy“ heißt?

Gabriel:

Ich beobachte eine Solidarität, aber die ist einseitig gegen das Etablierte. Wir haben eine stabile Demokratie, für die wir 80 Jahre gebraucht haben. Die Kosten waren hoch. Im arabischen Frühling kämpfen Menschen dafür, so etwas zu haben.

Sie propagieren in Ihrem Buch „Warum es die Welt nicht gibt“ einen neuen Realismus. Was meinen Sie damit?

Was wir alle sexy fanden an der Postmoderne war, dass sie dagegen war. Sie stellte Ideologien infrage. Sie sagte uns, vertraut den Bildern und der Politik nicht. Nun haben wir vieles, was gut ist, wie die Menschenrechte und das Recht auf Wahl. Das sollte man nicht dekonstruieren, sondern jeden Freitag mit einem Glas Champagner begießen. Der „neue Realismus“ besagt, das was gut ist, müssen wir anerkennen, das impliziert aber keine politische Selbstgefälligkeit, wie sie derzeit verbreitet ist.