Bruno Beltrão und Keith Hennessy präsentieren neue Choreografien auf Kampnagel

Performer plaudern mit Menschen im Zuschauerraum und schenken Getränke aus. Ganz nebenbei, fast unbemerkt beginnt auf den hinteren Plätzen die Kunst. Performer in mehr oder weniger wild und nicht unbedingt geschmackssicher zusammenkombinierter Alltagskleidung, verschieden an Herkunft, Alter und Statur, werfen sich Lamettamützen über den Kopf und legen los.

Schnell wird klar, dass dieser Abend nach eigenen Gesetzen abläuft und jene einer gewöhnlichen Präsentation unterläuft. Keith Hennessys „Turbulence – A Dance About The Economy“ nähert sich auf Kampnagel vom 25. bis 28. September auf experimentelle Weise dem Komplex der Ökonomie und ihren aktuellen Krisenphänomenen.

Da wird über die Herkunft der Zuschauerklamotten diskutiert. Ein Trapez baumelt schief von der Decke, bevor es von den Tänzern erobert wird. Moves aus dem zeitgenössischen Tanz wechseln sich ab mit Textpassagen. Aus den Stereoboxen dröhnen Klänge aus dem Weltempfänger. Verweis auf die fernöstliche Herkunft vieler Konsumgüter, etwa die obszön billig angebotene Kleidung, entstanden unter ausbeuterischen Verhältnissen in einsturzgefährdeten Fabriken. Ein Abend, zusammengesetzt aus diversen Samples, bei dem jederzeit sichtbar ist, dass es sich um einen ständig neu verhandelten Theaterprozess handelt.

Auch in diesem Jahr fällt das Fortschritts-Camp mit dem Saisonbeginn auf Kampnagel zusammen. Und idealerweise ergänzen sich die Programme inhaltlich auf wunderbare Weise. Denn der gebürtige Kanadier Keith Hennessy und sein in San Francisco beheimatetes Kollektiv Circo Zero setzen ihr Kapital, ihre Körper mit vollem Risiko ein, um kritisch wirtschaftlichen Entwicklungen nachzuspüren. Hennessy, der zum ersten Mal in Hamburg gastiert, begann als Queer- und Aids-Aktivist, bevor er Text, Gesang, Bilder, Tanz aber auch Akrobatik und Vaudeville in Performances verband. Seine Themen fand er bevorzugt im linken Milieu und in sozio-anarchischen Bewegungen.

Ganz anders, aber nicht weniger authentisch findet das Politische Eingang in die aktuelle Performance von Bruno Beltrão mit dem Titel „CRACKz (Dança morta)“, die beim Kunstenfestivaldesarts in Brüssel Uraufführung feierte. Der renommierte brasilianische Choreograf findet sein Material auf der Straße, in den Bewegungen der Hip-Hop-Szene und der Akrobatik, die er auf eindringliche Art und Weise mit Techniken des zeitgenössischen Tanzes verbindet.

Den Titel für seine Performance entlieh Beltrão dem Begriff des „Crackens“, des unerlaubten Kopierens von Computerprogrammen oder -spielen. Der Untertitel bezeichnet „tote Gesten“. In einer Art Copy-and-Paste-Choreografie hat er sich die aus dem Internet recycelten Bewegungsformen gleichsam als „gestohlene Gesten“ angeeignet. Und in ein Gesamtkunstwerk verwandelt, das man Tanz im digitalen Zeitalter nennen könnte.

Seine Choreografie basiert auf Tanzmaterial, das die 13 Tänzer – als einzige Tänzerin ist Bárbara Lima dabei – seiner Grupo de Rua zuvor aus dem Internet und in ihre Körper hinein geladen haben. Dort fanden sie offenbar reichlich spannungsgeladenes Material. Mal lässt Beltrão sie in Zweier- bis Sechsergruppen den Raum durchqueren, mal treffen Gruppen aufeinander.

Performer gleiten auf zu Skateboards umgewandelten Turnschuhen durch den Raum, um sich wenig später wie Schachfiguren vor der Attacke aufzustellen. Was verspielt wirkt, entwickelt sich häufig zu einem Zwei- oder Mehrkampf. Parallel hinterfragt Beltrão immer die herrschenden Codes der überwiegend von Männern beherrschten Szene, das Battling, die Coolness.

Das ist hochenergetisch, ja artistisch ausgeführt und spannungsvoll anzuschauen. Der Zuschauer bekommt spektakuläre Sprünge ebenso zu sehen wie bedrohliche Stürze. Es gibt keinen speziellen inhaltlichen Subtext, nur ein wildes Durcheinanderreden und -gestikulieren zu einem aufgedrehten Soundtrack. All das lässt sich hervorragend von südamerikanischen Straßen herleiten.

Der 1979 im brasilianischen Niteroi geborene Choreograf Bruno Beltrão begann selbst im Alter von 13 Jahren mit dem Tanz. 1996 gründete er die Grupo de Rua und entwirft seitdem atemberaubende und mehrfach mit Preisen dekorierte Produktionen, in denen er die klassische Battle-Struktur des Hip-Hop aufs Feinste dekonstruiert. Aktueller kann Tanz kaum sein.

Bruno Beltrão: „CRACKz (Dança morta)“ 25. bis 28.9., jew. 20.00, Karten 32/24/12 Euro (erm. ab 8 Euro);

Keith Hennessy/Circo Zero: „Turbulence – A Dance About The Economy“ 26. bis 28.9., jew. 21.00, Karten 22/12 Euro (erm. ab 8 Euro), beides Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de