Robert Skidelsky und die Ökonomie des guten Lebens

Wachstum bedeutet Wohlstand – das war das Mantra unserer Großeltern aus der Wirtschaftswunderzeit. Wenn die Wirtschaft wächst, gibt es mehr Arbeitsplätze, nimmt der Staat mehr Steuern ein, gibt es mehr Rente und mehr Investitionen in technischen Fortschritt oder Bildung. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP), der Indikator für Wachstum, steigt. Schön. Aber muss Wachstum heißen, dass es immer mehr Autos, Hundeleinen und PC-Tastaturen gibt? Nein. Dann bräuchten wir bald einen dritten Planeten Erde. Führt Wachstum zwangsläufig zu gesellschaftlichem Wohlstand? Auch nicht: Das BIP misst ja nur den Marktwert der produzierten Waren und Dienstleistungen, aber nicht, ob sie ressourcenschonend hergestellt werden und ob viele oder zu wenige Menschen davon profitieren. „Wachstum“ ist zum Fetisch geworden. Wenn es kein Selbstzweck sein soll – wie viel ist dann genug?

Das ist die Schlüsselfrage des diesjährigen Fortschritts-Camps, und beantworten will sie Großbritanniens bedeutendster Wirtschaftshistoriker: Lord Robert Skidelsky, Professor in Warwick, Mitglied des britischen Oberhauses und Autor des Buches „Wie viel ist genug?“, das er zusammen mit seinem Sohn Edward schrieb, einem Philosophen. „Ein endloses Wachstum, das für nichts mehr gut ist, weil alle mit allem Wichtigen längst versorgt sind, halten wir für sinnlos“, sagt Skidelsky.

Der 1939 in China geborene Ökonom hat sich in seiner politischen Karriere schon für die Labour Party, die inzwischen aufgelöste Social Democratic Party und die Conservative Party engagiert. Ein Querdenker im House of Lords, der als Kolumnist des „Guardian“ gegen die harte Sparpolitik der britischen Regierung zu Felde zieht. Die lasse den Bürgern keine Luft, eine Nachfrage zu entwickeln, warnt Skidelsky. Eine kluge Wirtschaftspolitik müsse auch die großen Einkommensunterschiede beseitigen. Vor allem fragt er: Wenn sich Großbritannien, Spanien, Portugal, Frankreich und Italien von der Finanzkrise erholt haben – wollen wir wirklich weitermachen, als wäre nichts gewesen? Ist es nicht überfällig, dass wir die alte Finanz- und Wirtschaftspolitik reformieren?

Eine Wachstumsorientierung, die auf „mehr, mehr“ schielt, sei nicht nachhaltig, sagte Skidelsky kürzlich in einem Interview – weder für die soziale Gemeinschaft noch für die Umwelt. Sie sei auch kein Glücksgarant. Menschen hätten die Eigenschaft, ihren Besitz mit dem anderer Menschen zu vergleichen, und glaubten ständig, dass es ihnen selbst an etwas fehle. Diese Art Unersättlichkeit sei im Kapitalismus „die psychologische Quelle einer ganzen Zivilisation“ geworden. In diesem Wachstumsgetriebe sei „genug“ nie genug. Es führe auch nicht dazu, dass die Menschen ihr Leben für sinnvoll hielten.

Was Skidelsky dagegensetzt, ist eine „Ökonomie des guten Lebens“. In einem guten Leben müssen Grundbedürfnisse wie Gesundheit, Sicherheit, Respekt, Persönlichkeitsentfaltung, Harmonie mit der Natur, Freundschaft und Muße befriedigt werden, definieren Skidelsky und Sohn. Diese Grundgüter braucht jeder Mensch, der Obdachlose wie die Aktienhändlerin – aber sie sind nicht käuflich. Eine Wirtschaftspolitik, die allein auf Produktionssteigerung und Wertschöpfung achtet statt auf gesellschaftliche Qualität, kann diese Güter nicht garantieren. Aber Politik kann sie durch kluge Maßnahmen ermöglichen: etwa durch ein gesetzliches Grundeinkommen und eine Arbeitszeitbeschränkung, „um Muße neu zu lernen“. In diesem Sinne seien „Wachstum“ und „Wohlstand“ vor allem ethische Säulen einer Volkswirtschaft. Der Staat habe „die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir ein gutes Leben wählen und kultivieren können“.

Zurück zu Keynes also, der sagte: „Der Staat ermöglicht Zivilisation.“ Es sei kein Wunder, dass viele Politik- und Wirtschaftswissenschaftler heute die bewährten Klassiker der Antike und der Aufklärung wiederentdeckten, meint Skidelsky: „Die Ideengeschichte bringt nicht unerschöpflich Neues hervor, sie ist überreich an Altem.“

Nach seinem Vortrag wird Skidelsky diskutieren, was Wachstum mit Fortschritt zu tun hat – im Gespräch mit dem Grünen-Politiker Ralf Fücks, Karl-Heinz Paqué, Mitglied der Enquête-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ und Angelika Zahrnt, Ehrenvorsitzende des BUND.

Robert Skidelsky: „Wie viel ist genug?“ Sa 28.9., 11.00–12.00, Einlass 10.30 Uhr, k6/ Kampnagel, Vortrag/Diskussion in engl. Sprache

Robert Skidelsky, Ralf Fücks, Karl-Heinz Paqué, Angelika Zahrnt: „Fortschritt ohne Wachstum?“ Diskusssion Sa 28.9., 13.15–14.30, k1/Kampnagel, Eintritt frei