Die zweite Staffel der starken ARD-Serie „Weissensee“ mit Hannah Herzsprung ist bereits seit Frühjahr als DVD erhältlich. Heute startet sie im Ersten

In der Literatur, im Kino und im Fernsehen machen die Deutschen das Beste aus den beiden Diktaturen, die sie im 20. Jahrhundert hervorbrachten. Manchmal fragt man sich, was sie sich und der Welt zu erzählen hätten ohne diese Erfahrung. Alle großen Erzählungen handeln von den Mächten und Leidenschaften, die das menschliche Leben beherrschen, von der Liebe, von Familienbanden, von Machtstreben und Ehrgeiz, von Treue und Verrat, von Krankheit und Sucht.

Unter den Bedingungen totalitärer Systeme reagieren diese Elemente besonders heftig, jedenfalls in der Fantasie der Erzähler. Wenn alles glückt, entstehen so Kunstwerke, die weit mehr sind als „Geschichtsaufarbeitung“. Die Fernsehserie „Weissensee“, deren erste Staffel vor drei Jahren ausgestrahlt wurde, zeigt auf erstaunliche und beglückende Weise, dass dieser Geschichtsstoff auf ein Format heruntergebrochen werden kann, das sonst eher leichteren Themen vorbehalten ist. Aber was heißt hier „herunterbrechen“? „Weissensee“ bietet als Familiengeschichte spannende Unterhaltung, sie erspart dem Zuschauer aber nicht die Erschütterungen der klassischen Tragödie und liefert historisch-politische Aufklärung der eindringlichsten Art.

Die zweite Staffel von sechs Folgen, seit Frühjahr als DVD auf dem Markt, wird von heute an in der ARD gesendet. Sie ist nicht nur eine Fortsetzung, sondern in mancher Hinsicht eine Steigerung. Sie treibt die Protagonisten in unerträgliche Konflikte und Zwangslagen. Es ist tatsächlich, als hätten griechische Tragödienschreiber den Autoren die Feder geführt. Wir schreiben das Jahr 1987. Die finale Krise der DDR beginnt sich abzuzeichnen. In den beiden Familien, die im Zentrum der Geschichte stehen, gerät jeder Einzelne in Situationen, die ihm existenzielle Entscheidungen abverlangen. Natürlich will man zunächst wissen, ob die beiden Liebenden Martin und Julia, er Sohn des Stasi-Offiziers Hans Kupfer (Uwe Kockisch), sie Tochter der ehemals aufmüpfigen Sängerin Dunja Hausmann (Katrin Sass), wieder zusammenkommen.

Florian Lukas und Hannah Herzsprung waren als Darsteller des Paares, das seinen Anspruch auf individuelles Glück durch Flucht in den Westen verwirklichen wollte, die Stars und Identifikationsfiguren der ersten Staffel. Seit dem gescheiterten Fluchtversuch sitzt Julia im Gefängnis. Martin, der ehemalige Volkspolizist, der nun als Tischler arbeitet, wähnt sie im Westen, weil sein Stasi-Bruder Falk (Jörg Hartmann) ihm gefälschte Briefe hatte zukommen lassen. Nun will er seiner Geliebten so schnell wie möglich folgen.

Für die Liebenden gibt es kein Happy End. Julia ist durch die Haft gesundheitlich schwer angeschlagen und durch den Verlust ihres Kindes, das sie im Gefängnis zur Welt brachte, traumatisiert. Erst langsam findet sie wieder zu Martin. Zweifel tauchen auf, ob die Tochter wirklich gleich nach der Geburt starb. Martins Vater Hans, ein Stasi-Intellektueller, der mit Gorbatschows Reformpolitik sympathisiert, hilft dabei, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Falk versucht das mit allen Mitteln zu verhindern und droht Julia mit der Einweisung in die Psychiatrie. Julia überlebt das nicht. Nach einem Streit mit Falk rennt sie auf die Straße und wird von einem Lastwagen überfahren.

Das geschieht in der dritten Folge und durchkreuzt alle Erwartungen. Mitten in der Geschichte verschwindet die bisherige Hauptfigur, vor allem aber die wichtigste Sympathieträgerin. Autor und Regisseur Friedemann Fromm geht mit diesem dramaturgischen Brachialakt ein hohes Risiko ein. Er nimmt dem Publikum die Hoffnung, dass es doch vielleicht etwas Richtiges im Falschen geben könnte, eine nach langen Irrungen wiedervereinigte junge Familie unter der Stasi-Diktatur. Der Fokus richtet sich denn auch immer mehr auf Falk, mit dessen alles Plakative und Karikierende meidender Darstellung Jörg Hartmann ein schauspielerisches Kabinettsstück liefert, das aus den insgesamt glanzvollen Leistungen in „Weissensee“ noch herausleuchtet. Dieser Falk ist gleichzeitig böse, skrupellos und heimtückisch, ein aufrechter politischer Überzeugungstäter und ein seiner Frau (Anna Loos) und seinem Sohn ehrlich zugetaner Familienmensch.

In der griechischen Tragödie sind nach solchen Geschehnissen Blutopfer fällig. Mord und Selbstmord aber bleiben uns in „Weissensee“ erspart. Es ist erstaunlich, wie die seelisch tief verwundeten Protagonisten noch zu einem Alltag fähig sind. Wahrscheinlich trifft das aber die wahren Verhältnisse in der untergehenden DDR. Den Bürgerkrieg wollte niemand. Die DDR ging friedlich unter. Über Nacht fanden sich Opfer und Täter unter dem Dach eines funktionierenden demokratischen Rechtsstaates wieder. Alles war neu. Nur dass das eigene Leben und das der jeweils anderen weitergeht, das war bekannt.

„Weissensee“ entlässt die Zuschauer ins Offene. Die zweite Staffel ist auf Fortsetzung angelegt. Man will wissen, wie es mit Familie Kupfer weitergeht, wenn die Mauer fällt und der Staat untergeht, der für sie in einem dramatischen Sinn Familienangelegenheit war.

„Weissensee“, 17. und 24. September, 1., 8., 15. und 22. Oktober, 20.15 Uhr, ARD