Mit einem bemerkenswerten Theater-Konzert leiten die Hamburger Symphoniker das zweite Jahr ihres Beitrags zur „Luther-Dekade“ ein.

Hamburg. Für den gewöhnlichen sterblichen Zuhörer war er in der vergangenen Spielzeit nicht leicht zu erfassen, der auf drei Jahre angesetzte und vom Staatsminister für Kultur üppig bezuschusste Beitrag der Hamburger Symphoniker zur landesweit ausgerufenen „Luther-Dekade“. Der Intendant Daniel Kühnel komponierte einige bemerkenswerte Konzertprogramme, die thematisch um die Welt vor der Reformation kreisten – allein, die Transmission ins allgemeine Bewusstsein wollte sich nicht so richtig anlassen.

Am Sonntag nun, zum Saisonbeginn, rückte jener historische Moment, der die Reformation selbst einleitete, ins Scheinwerferlicht: Luthers ans Tor der Schlosskirche zu Wittenberg genagelte 95 Thesen. Musikalisch, aber auch mit einem szenischen Prolog. Der amerikanische Dramatiker David Davalos brachte 2008 in seinem Stück „Wittenberg“ Martin Luther in einen fiktiven Zusammenhang mit Faust und Hamlet, Schauspieler des Thalia Theaters verkörperten das Trio auf der Bühne der Laeiszhalle. Eingerichtet hatte die gut halbstündige Szene der Thalia-Intendant Joachim Lux.

Das aus dem Manuskript rezitierte dramatische Entree traf den Saal so unvermittelt, dass am Ende einige augenscheinlich auf Theater vor der Musik nicht vorbereitete Konzertbesucher laut ihr Missfallen bekundeten. Vielleicht hätte sich mancher dieser Protestanten später gern auf die Zunge gebissen, denn die Plausibilität dieser ungewöhnlichen Eröffnung löste sich prompt ein, als das Orchester die „Reformationssymphonie“ von Felix Mendelssohn Bartholdy spielte.

Davalos’ klug und pointiert ausgedachter Disput zwischen Religion und Philosophie, zwischen Gottvertrauen und Zweifel, zwischen dem Gehorsam gegenüber einer Autorität von außen und der alleinigen Verpflichtung gegenüber dem eigenem Denken öffnete den Geist für ein anderes Hören. So ließ einen die ungewohnt zaghafte, weiche Spielweise der Symphoniker diesen Martin Luther als einen Kirchenmann am Scheideweg imaginieren, der als Diener und Teil des Systems nur widerstrebend das tut, was er seiner Überzeugung nach tun muss.

Noch den Luther zugeschriebenen Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“, den Mendelssohn in einem Variationssatz ans Finale setzte, deutete Chefdirigent Jeffrey Tate weniger als Fanfare des Glaubens denn als Gesang der Erschütterbaren.

Zu einem Fest des Geistes, den auch schärfste staatliche Repression nicht zum Schweigen bringen kann, geriet anschließend Schostakowitschs 4. Sinfonie. Über 100 Instrumentalisten warfen sich mit Feuer und hoher Klangkultur in die von Tate sorgfältig einstudierte Musik, die Schostakowitsch Mitte der 30er-Jahre komponiert hatte und die erst 25 Jahre später uraufgeführt wurde. Apokalypse und Erlösung liegen darin oft nah beieinander. Greller, schneidender Lärm etwa aus Piccoloflöten, Bassposaune, Tuba und stellenweise bis zu acht Hörnern, lesbar als Chiffre für die Pein des Individuums im Verhaltens- und Gedankenschraubstock des Stalinismus, kontrastiert mit elysischen Momenten, als gäbe es beim Jüngsten Gericht Hoffnung auf Freispruch.

Die Maschinerie, in der der Einzelne nur ein Rädchen im Getriebe ist, sie rattert und arbeitet, aber auch der Spott über die fruchtlosen Vereinnahmungsversuche des freien Menschen unter das Joch jedweder Denkungsart feiert manchen in Musik gesetzten Triumph. Nahezu alle Instrumente bzw. Instrumentengruppen brillierten mit Solopassagen, der neue erste Konzertmeister Ionel Adrian Iliescu gab mit dem Seinen einen glänzenden Einstand.

So groß die Versuchung ist, Schostakowitschs Musik vor allem politisch zu lesen: Sie besäße nur wenig Kraft, spräche sie nicht zugleich und womöglich noch viel mehr auch über die Condition humaine jenseits aller Systeme. Wer solche Musik im Rücken hat, geht vor niemandem mehr in die Knie.