Die Internet-Aktivisten Julian Assange und Jacob Appelbaum sprechen bei der Lead Academy über Tücken des Netzes und Überwachungspraktiken, die Geheimdienste von den USA aus vorantreiben.

Hamburg. Ein George-Orwell-Moment, mitten in der Debatte, mitten ins gespannte Zuhören hinein, mit bitterer Ironie gemachter Erfahrungen aufgeladen. Wir sind beim Lead Awards Symposium in den Deichtorhallen, am Abend werden Preise für besonders gut gemachte bedruckte Blätter und virtuelle Seiten vergeben. Hipster-Frisuren, -Schuhe und -Hosen, sehr kluge Telefone in fast jeder Hand. Das Aroma von Wichtigtun und Irgendwiewichtigsein liegt gefällig in der Luft. Auf der Bühne sitzt Jacob Appelbaum, ein Internet-Aktivist, der seine Wut über die Machtverhältnisse im Internet und die Ohnmacht vom Rest der Welt in geschliffene Formulierungen verpacken kann. „Obama ist entweder inkompetent oder ein Lügner. Wahrscheinlich beides.“

Und über der Bühne schwebt, großerbruderartig, der sprechende Kopf des bekanntesten Australiers der Welt.

Julian Assange, übers Internet live dabei, unsichtbar gekettet als Botschafts-Dauergast an ein Stück Ecuador, das mitten in London liegt. Und Assange sagt, als er vom Moderator, dem SZ-Feuilletonchef Andrian Kreye, auf das vermeintlich so niedlich-harmlose Google-Firmenmotto „Don’t be evil“ angesprochen wird, im besten „1984-Tonfall: „Seid nicht böse. We’re watching you.“ Der erhobene Zeigefinger aufs Publikum gibt der Szene den Rest. Soviel also zur Gretchen-Frage, wer hier wem dient. Und zu welchem Zweck.

Unter der Überschrift „Widerstand oder Achselzucken?“ stellten die beiden ihre Sicht der Welt dort da, wo wenige Stunden später Bildstrecken mit Models und die amüsantesten Werbekampagnen ausgezeichnet werden sollen.

Doch jetzt ist hier erst mal rein gar nichts amüsant.

„Wir leben in ziemlich erschreckenden Zeiten“, sagt Appelbaum, der als Amerikaner und Jude jetzt in Berlin lebt. Weil er sich dort sicherer fühlt als in den USA. Die Überwachungspraktiken, die Geheimdienste von dort aus vorantreiben, seien ein Kennzeichen von Unterdrücker-Systemen. Land of the free, home of the brave? Appelbaum glaubt andere Dinge. Weiß ganz andere Dinge. Ein Galgenhumor-Witzchen zwischen ihm und Assange, mit dem er ein Buch über die Freiheit und die Zukunft des Internet geschrieben hat: Egal, was mit uns passiert, und selbst wenn es ein Video gibt, das das Gegenteil beweist: Es war Mord. Solche Witze sollte niemand noch machen müssen.

Genau 100 Tage, nachdem ein junger IT-Angestellter namens Edward Snowden seine ersten Enthüllungen präsentierte, sitzt man hier, ein wirklich erschreckend kluges Telefon in der Jackentasche, und wird das mulmige Gefühl nicht los, dass alles, was bisher herausgekommen ist, nur Teil der Spitze eines Eisbergs ist. Die letzten 100 Tage haben die Welt verändert, für immer.

„Warum hat sich das Weiße Haus so lächerlich benommen?“, legt auch Assange rhetorisch fragend los, als er auf die Paranoia-Attacken der Amerikaner gegen Whistleblower wie Snowden, Chelsea Manning oder Glenn Greenwald berichtet. Obama? Der ist für ihn nur ein Korken im Ozean, getrieben und gelenkt von viel größeren Kräften.

„Was im Internet schief geht, geht in allen Gesellschaften und Kulturen schief“, sagt Assange, und er regt sich ein weiteres Mal auf, als die Frage auf die Haltung vieler Medien kommt. „Ihr Verhalten spiegelt ihre Arbeitsbedingungen wieder.“ Der „Guardian“ hat gut einen Monat für sich behalten, dass Agenten in der Londoner Redaktion Festplatten zur Einschüchterung lädierten? Ein Skandal, findet Assange. Das hätte sofort die Titelgeschichte sein müssen. „Alle Journalisten sind Aktivisten für die Wahrheit“, sagt Appelbaum wenig später, um klarzumachen, dass die Trennlinie nicht zwischen ihm und anderen Berichterstattern und Aufdeckern verläuft, sondern: zwischen den Guten und den Bösen. Die Bösen sind für beide so ziemlich überall. Viel zu dicht an der Macht und am Abzug.