Aus Anlass des 60. Geburtstags der amerikanischen Fotografin Nan Goldin sendet Arte heute die Dokumentation „Im Augenblick“. Sie zeigt Goldin in ihrem Pariser Apartment, wo sie seit 13 Jahren lebt, und in Berlin.

Ein Junge steht vor einer kahlen Wand. Sein Mund ist rot geschminkt, sein schmächtiger Oberkörper bis auf eine billige Plastikgirlande aus silbernen Sternen entblößt. Vor der Kamera senkt er den Blick. Es ist ein intimer Moment, in dem die US-amerikanische Fotografin Nan Goldin auf den Auslöser gedrückt hat, ungekünstelt und direkt. Wie in allen ihren Bildern. Ungekünstelt und direkt ist auch das Porträt, das die Regisseurin Sabine Lidl über sie gedreht hat und das heute, 22.55 Uhr, auf Arte ausgestrahlt wird.

Übrigens kein willkürlich gewähltes Datum, sondern der 60. Geburtstag der Künstlerin. „Im Augenblick. Fotos, Freunde & Familie“ heißt der Titel, der treffend beschreibt, wie Nan Goldin arbeitet: Sie hält ihr eigenes und das Leben ihrer Freunde mit der Kamera fest. Immer spontan und ganz nah dran. Das Drehbuch hat sie in Zusammenarbeit mit der Berliner Produzentin Irene Höfer erarbeitet.

Sabine Lidl zeigt Goldin in ihrem Pariser Apartment, wo sie seit 13 Jahren lebt, und in Berlin. Immer im Bild: ihr Markenzeichen, die brennende Zigarette. Viele Szenen sind 2009 entstanden, als sie eine Ausstellung in der deutschen Hauptstadt eröffnete. In den 90ern war sie für ein Stipendium zum ersten Mal hier. „Das dauerte ein Jahr, aber ich bleib für drei“, erzählt Goldin. „Es war eine unglaubliche Zeit.“ Bis heute ist die Stadt für sie ein Zuhause, wo viele Freunde leben.

Zum Beispiel die Künstlerin Käthe Kruse. In den 1980er-Jahren verbrachten sie Tag und – vor allem – Nacht zusammen. Goldin fotografierte sie beim Feiern oder völlig entblößt unter der Dusche. „Wahrscheinlich würde Nan es jetzt wieder schaffen, mich nackt zu fotografieren“, verrät Kruse im Film. „Wir haben ja keine Scheu voreinander.“ Das ist das Geheimnis, warum ihre Bilder nicht voyeuristisch wirken: Zwar nimmt sie die Perspektive des heimlichen Beobachters ein, doch ist die enge Bindung zwischen Fotografiertem und Fotografin spürbar. Sie machte immer nur Bilder von Menschen, die sie sehr gut kannte.

„Ich habe mich früh abgenabelt von meiner Familie, um emotionale Wärme zu erfahren. Meine Freunde wurden für mich wichtiger als meine Familie. Nur so habe ich gelebt und überlebt“, erklärt Goldin. Allein die Schwester Barbara Holly gehörte zu den wichtigsten Personen in ihrem Leben. Nachdem die sich mit 18 umgebracht hat, zog sie von zu Hause aus. Sie studierte in Boston und ging 1978 nach New York. Seitdem interessierten sie vor allem die Außenseiter: Oft zeigt sie Transsexuelle, schrill kostümiert und stark geschminkt. Die Gesichter sind vom Feiern verschwitzt oder blass und vom Drogenmissbrauch gekennzeichnet. Goldin schreckte nicht davor zurück, auch die Schattenseiten des hemmungslosen Lebensstils im Freundeskreis zu zeigen. Jahrelang nahm sie selbst Heroin und Kokain. Auch Aids-Kranke begleitete sie. „Ich erlaubte diesen Menschen, ihr eigenes Leben zu zeigen, das so wertvoll ist, wie das der anderen Menschen“, sagt sie. „Viele kamen zu mir und sagten, dass es ihnen geholfen hat. Ich bin da nicht bescheiden. Ich glaube, ich erschuf eine neue Sichtweise auf die Fotografie“, sagt sie. Was soll jetzt eigentlich noch kommen? „Ich glaube an Wiedergeburt“, lacht die Fotografin. „Ich werde als Top-Model wieder geboren ohne Grips mit langen Beinen.“

Davon gibt es viele. Aber eine Fotografin wie Nan Goldin wird es wohl nicht wieder geben.

Nan Goldin – Im Augenblick Do 12.9., 22.55, Arte