Theater Lübeck eröffnet die Saison mit bewegendem Stück von Michael Wallner

Lübeck. Ein Märchen aus der Zeit der Schreibmaschine: Mit dem Kanzlerdrama „Willy Brandt – Die ersten hundert Jahre“ startet das Theater Lübeck in die Saison, treibt das Ensemble in ungeahnte darstellerische und sangliche Spitzenleistungen. Der österreichische Autor und Regisseur Michael Wallner inszenierte die Uraufführung seines Dramas selbst – bewusst in des vierten Kanzlers der Bundesrepublik „Mutterstadt“, wie Willy Brandt (1913–1992) Lübeck nannte, wo er unter dem Namen Herbert Ernst Karl Frahm bei seiner Mutter und seinem Stiefgroßvater aufwuchs.

Ein großer Theaterabend ist Wallner gelungen, obwohl er pädagogisch hineinstolpert in dieses Jahrhundertleben, diesen dramatischen Spiegel des 20. Jahrhunderts, und obgleich er anstrengend ausführlich bis zu Mauerfall und seinen ersten Folgen die Biografie zu Ende erzählt. Dazwischen reißt uns sein virtuoser Genremix zwischen Schauspiel und Oper, zwischen Politrevue und Historiendrama knappe drei Stunden lang mit. Da rast erlebte Geschichte am Zuschauer vorüber, die niemanden kaltlässt, ob er nun für Willy Brandt war oder sein politischer Gegner. So wie im Theater Lübeck wäre das möglicherweise, wenn es stimmte, dass kurz vor dem Tode noch mal das Leben vor dem inneren Auge des Sterbenden abliefe. Falls dazu Musik gespielt würde, wie hier die Kompositionen von Willy Daum, der mit der Band „Die Lobbyisten“ die Aufführung begleitet.

Andreas Hutzel verkörpert Brandt in einer bis in die imitierte Sprechweise umwerfenden Performance als zerrissene, privat wie politisch problembelastete, charismatische Persönlichkeit. Jeder Willy kommt auf die Bühne: Der distanzierte, der den Spitznamen „Weinbrandt“ rechtfertigende, der mit den Affären, der mit den parteiinternen Gegnern „Wehner und Schmidt sind Armleuchter“ (Brandt). Siegfried Lenz beschrieb einst: „Willy Brandts Sprechstil führt einen zu der Annahme, als erlebe man gleichzeitig die Entstehung von Gedanken. (…) Wenn Willy Brandt spricht, scheint mir, wird eine ganz besondere Mühsal deutlich: die Mühsal eines Überzeugungsprozesses, bei dem man sich auf Wörter verlässt.“ Dieser Überzeugungsprozess, mit dem der Regierende Bürgermeister von Berlin (West), der SPD-Vorsitzende, der Außenminister und der Bundeskanzler für eine neue Innen- („Mehr Demokratie wagen“) und Außenpolitik (Ostverträge) warb, dauerte lange Jahre. Drei Anläufe brauchte Brandt, bis er zum Bundeskanzler gewählt wurde. Wallner gelingt es, in kurzen, anekdotischen Spielszenen historische wie private Schreckens-, Kampf-, Verlust- und Siegesmomente in einen berührenden, unterhaltsamen Reigen zu stellen, der ein intersubjektiv nachvollziehbares Bild einer Person zeichnet, die letztlich nicht zu fassen ist.

In mehr als 39 anspruchsvollen Rollen haben die zehn Schauspieler und der Opernchor auf der Multifunktionsbühne mit transparenter Leinwand (Bühne: Heinz Hauser) zu schlüpfen. Dokumentarische Filme werden zum Glück nicht gezeigt. Julius Robin Weigel glänzt als Adolf Hitler, spielt ihn als Marionette, die als Opfer ihrer eigenen Vernichtungsideologie immer wieder zusammenklappt, bis sie historisch überwunden wird, eben auch von Gegnern wie Willy Brandt.

So entzückend nah wie Hutzel Brandt kommt Schauspieler Peter Grünig dem FDP-Politiker Hans-Dietrich Genscher, liefert dazu ebenso akkurat Horst Ehmke und Walter Ulbricht ab.

Timo Tank überzeugt als doppelter Günter: Guillaume und Grass. Der Wahllübecker Grass, wie Brandt Nobelpreisträger, hält seine Unterstützer-Reden für Willy gern aus dem Publikum heraus, in Lübeck ist das immer ein guter Lacher. Ganz groß ist Herbert Wehner, gespielt von Robert Brandt, der sich auf diese eine Figur konzentrieren darf. Dieses Prinzip gilt auch für Susanne Höhne, die als Rut Brandt eine verletzliche, enorm starke Figur macht. Schauspielerin Sara Wortmann löst die heikle Aufgabe sehr gut, die allegorische Figur „Die Dunkelheit“ zu spielen, die den inneren Dialog mit Willy Brandt in einen äußeren verwandelt. Für die literarische Figur gilt: wenn man sich erst mal an die Dunkelheit gewöhnt hat, ist sie gar nicht mehr so schlimm. Sven Simon spielt den Verfassungsschützer Günther Nollau und Konrad Adenauer, der es bei Wallner nicht zu einer Sprechrolle bringt. Die stärkste Phase des Stückes zeigt nach der Pause die Politopernbühne Berlin. Hier entfaltet sich das dreistündige Kanzlerdrama am stärksten, der Chor übernimmt mal als Ost-, mal als Westvolk tragende Rollen und in dankbaren Kurzauftritten kommen John F. Kennedy und Leonid Breschnew zu Besuch. Berühmte Zitate durchziehen das Stück.

Auch schön sind die Witze, die Willy Brandt so furchtbar gern erzählte. „Was ist relativ?“, fragt Brandt und antwortet selbst: „Fünf Flaschen im Weinkeller sind relativ wenig, fünf Flaschen im Kabinett sind relativ viel.“ Das gilt auch in Zeiten des Computers.

„Willy Brandt“ am Theater Lübeck, Termin: 19. Oktober, Karten: 0451/399600