Der in Hamburg geborene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf starb nach langer Krankheit in Berlin. In seinem Blog schrieb er bis zuletzt über sein Leiden

Berlin/Hamburg. Der letzte Eintrag in Wolfgang Herrndorfs Blog unter der Überschrift „Schluss“ stammt von Dienstag: „Am Montag, dem 26. August 2013, ist Wolfgang Herrndorf gestorben.“

2010 war bei dem Schriftsteller und Illustrator Herrndorf ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert worden. Drei Jahre lang hatte er auf seine Weise versucht, mit der Krankheit umzugehen und in seinem digitalen Tagebuch „Arbeit und Struktur“ vom Fortgang der Erkrankung berichtet. In unregelmäßigen Abständen schrieb der 1965 in Hamburg geborene und seit Langem in Berlin lebende Herrndorf aber nicht nur über den Krebs und die Krankenhausaufenthalte, sondern auch über Literatur, die Freunde und das Leben. Interviews gab er keine, den Preis der Leipziger Buchmesse 2012 nahm an seiner statt ein Freund entgegen.

Herrndorfs Schicksal hat etwas Ironisch-Tragisches: Die letzten Jahre seines Lebens lebte er mit dem Todesurteil – und als Erfolgsautor. Er schenkte der Lesegemeinde im Herbst 2010 mit „Tschick“ eines der wunderbarsten Bücher, die je über Freundschaft und Erwachsenwerden geschrieben wurde. Der Roadtrip zweier Teenager durch die ostdeutsche Provinz wurde seit Erscheinen in 24 Sprachen übersetzt und allein auf Deutsch mehr als eine Million Mal verkauft. „Tschick“ wurde auf mehreren deutschen Bühnen, unter anderem am Thalia, als Theaterstück aufgeführt und ist Schullektüre. Sogar in Costa Rica, wie Herrndorf einmal launig in seinem Blog anmerkte.

Sein literarisches Werk ist schmal. 2002 erschien Herrndorfs Debüt „In Plüschgewittern“, ein Berlin-Roman, der ihn als guten Beobachter auswies. 2004 erhielt er bei beim Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis für seine Erzählung „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Unter demselben Titel erschien 2007 ein Kurzgeschichtenband. Herrndorfs Prosa wurde als „federleicht“ bezeichnet und für ihren Witz gepriesen. Das Frühwerk wurde bisweilen unter dem eine Zeit lang sehr beliebten Signum „Popliteratur“ geführt.

Humor durchdrang jedes seiner Bücher, er war ein früher Begleiter auf seinem Berufsweg: Herrndorf studierte Malerei in Nürnberg und arbeitete als Illustrator unter anderem für die Satirezeitschrift „Titanic“. Wie zutiefst menschlich und warmherzig seine Menschenbetrachtung war, zeigt die Freundschaft der ungleichen Schüler Maik und Tschick, die einen Lada klauen und den in von Berlin aus betrachtet ferne Gegenden und allerlei skurrile Episoden steuern. Dabei lernen sie, sich selbst so anzunehmen, wie sie nun einmal sind – ein großes Thema nicht nur für junge Leute.

Das ästhetisch anspruchsvollste Buch ist indessen der Ende 2011 veröffentlichte Thriller „Sand“, für den Herrndorf den Leipziger Preis erhielt. In seinem letzten Buch spielte Herrndorf mit postmodernen Elementen und war dabei doch wie immer äußerst unterhaltsam. Bis zuletzt arbeitete Herrndorf an einem Manuskript, das den Titel „Isa“ trägt. Er rang dem Rest Leben, das ihm noch blieb, jede Zeile ab, die er noch schreiben konnte.

„Und immer wieder vergesse ich die Sache mit dem Tod. Man sollte meinen, man vergesse das nicht, aber ich vergesse es, und wenn es mir wieder einfällt, muss ich jedes Mal lachen, ein Witz, den ich mir alle zehn Minuten neu erzählen kann und dessen Pointe immer wieder überraschend ist. Denn es geht mir ja gut“, hieß es einmal in seinem Blog. Und oft schrieb er, wie schön alles ist, das Schwimmen mit den Freunden im Plötzensee zum Beispiel. Dann wieder referierte er schmerzlich präzise, wie schwierig der Alltag wird, wenn der Körper sich verabschiedet. Am Ende ließ Herrndorf alle Hoffnung fahren. Am 15. Juli berichtete er von einem Arztbesuch: „Befund schlecht wie erwartet. Avastin ohne Wirkung, Glioblastom (bösartiger Hirntumor) beiderseits progressiv. Ende der Chemo. OP sinnlos. Ich weiß, was das bedeutet.“

Als Leser lernte man, so platt das klingt, jedes Mal aufs Neue das Leben zu schätzen, wenn man Herrndorfs oft lakonisch kommentierte Alltagsbeschreibungen eines Todkranken las, der augenblicksweise das Benehmen „eines Fünfjährigen“ (Herrndorf) an den Tag legen konnte und sich über „Bäume, Autos und Licht“ freute und dann wieder stoisch die Medizin über sich ergehen ließ, weil er sonst nichts tun konnte.

Kurz nachdem der Rowohlt-Verlag, bei dem Herrndorfs Bücher erscheinen, am Dienstag die Todesnachricht in die Welt schickte, war seine Homepage vorübergehend für mehrere Stunden nicht zu erreichen – Überlastung. Dafür twitterte seine langjährige Weggefährtin Kathrin Passig, dass Wolfgang Herrndorf sich selbst das Leben genommen habe, also nicht direkt seiner Krebserkrankung erlegen sei.

Seine Bücher werden bleiben.