Die Langenhorner Band Slime hat bundesdeutsche Musikgeschichte geschrieben. Am 22. August spielt sie auf der Trabrennbahn

Hamburg. „Wenn ich so weitergemacht hätte, wäre ich jetzt in Ochsenzoll, Fuhlsbüttel oder Ohlsdorf“, sagt Dirk Jora, genannt Dicken. Hamburger wissen, was er meint: in der Psychiatrie, im Gefängnis – oder tot. Das klingt dramatisch, ist aber wohl die realistische Einschätzung eines Mannes, der in Sachen Drogen wenig ausgelassen hat, seit er vor 33 Jahren in die Langenhorner Punkband Slime einstieg, bei der er auch heute als Sänger am Mikro steht.

Slime, das ist ein ganz besonderer Teil bundesdeutscher Musikgeschichte. Ein Teil, der ebenso mit linksradikaler Politik verbunden ist wie mit exzessiven Dosenbiergelagen und dem FC St. Pauli. „Wir wollen keine Bullenschweine“ hieß 1980 die erste Single, die sofort auf dem Index landete, aber in Szenekreisen den Kultstatus der Band mächtig beförderte. Keine Demo damals, auf der dieser Song oder eine der folgenden Agitprop-Hymnen nicht gespielt wurde. Als legitime Nachfolger von Ton Steine Scherben („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) galten Jora und Co., Slime-Auftritte waren angekündigte Kampfhandlungen mit Musik. Unvergessen etwa ein Konzert 1982 in der Harburger Friedrich-Ebert-Halle. Hundegebell und Sirenengeheul draußen, eine Hundertschaft Polizisten drinnen, versteckt unter der Bühne. Und mittendrin der damals 22-jährige Jora, bis in die Haarspitzen voll Adrenalin und Hass auf das „System“. Die Halle hinterher: Ein Trümmerfeld aus zerschlagenem Gestühl.

Gut drei Jahrzehnte später ist er ruhiger geworden, auch wenn er sagt: „Ich vermisse die Gemeinsamkeiten, ich vermisse es, mit einer Gang loszuziehen“. Ein Rückzug ins Private habe stattgefunden, selbst bei einer Rampensau wie ihm. Dabei verlief die Slime-Geschichte nie linear. Nach Anfangserfolgen löste sich die Band 1984 auf, vor allem, weil die ständigen Ausverkauf-Vorwürfe aus der linken Szene an den Nerven zerrten.

Auch Rapper Casper und die Jungs von Deichkind sind erklärte Slime-Fans

Mit der Musik Geld verdienen, und sei es nur, um wenigstens die Miete zahlen zu können, galt als verwerflich. Auch dies eine Parallele zu Ton Steine Scherben, die einst mit ähnlichen Anwürfen zu kämpfen hatten. Nach einer Reunion und dem Album „Schweineherbst“ (1994), das sich bis heute etwa 100.000-mal verkaufte, war dann bald wieder Schluss und ein echtes Comeback gab es erst 2010, beim Jubiläumskonzert zum 100. Geburtstag des FC St. Pauli im Millerntor-Stadion. Seitdem existiert Slime wieder, spielt die Band ausverkaufte Konzerte, begeisterte beim Wacken Open Air, nahm ein neues Album auf und ist Gegenstand der jüngst erschienenen Biografie „Deutschland muss sterben“ von Daniel Ryser. Am 22. August steht zudem ein Auftritt beim „Hamburg Crash Fest“ auf der Trabrennbahn Bahrenfeld an.

Ein guter Zeitpunkt, um mit Dirk Jora über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sprechen. Der blonde Strubbelkopf ist immer noch eines seiner Markenzeichen, er trägt ein T-Shirt der „Green Brigade“, der Ultragruppierung des schottischen Fußballclubs Celtic Glasgow. Nach dem FC St. Pauli seine zweite große Liebe. 16 Länder hat er mit Celtic bereits bereist, alle 14 Tage sitzt er zudem auf der Haupttribüne des Millerntors und feuert St. Pauli an. Die Stehplatzzeiten in der Gegengerade sind vorbei, die Zeit des Schwarz-Weiß-Denkens ist es ebenso. Den Anti-Amerika-Song „Yankees raus!“ spielt Slime schon lange nicht mehr, und „All Cops Are Bastards“ kommt auch etwas anders über die Lippen, seit mit Fabian Boll ein Kriminalkommissar Woche für Woche das Trikot der Braun-Weißen überstreift. Jora wohnt seit fünf Jahren nicht mehr in Hamburg, sondern in einem schleswig-holsteinischen Dorf, hier atmet er durch, erholt sich von den Konzerten, setzt Saunabesuche, Spaziergänge und vegetarisches Essen gegen die Exzesse von einst. Und er macht sich Gedanken über seine ganz persönliche Zukunft. Altersvorsorge hat er nie betrieben, aber keine andere Einnahmequelle als Slime-Konzerte. Aus vergangenen Zeiten ist nichts übrig, aktuelle CD-Verkäufe spielen höchstens die Produktionskosten ein. Ein radiotauglicher Hit, der die Band hoch in die Charts katapultiert, würde helfen. „Früher wären wir dazu niemals bereit gewesen, hätten das Gefühl gehabt, uns ans System zu verkaufen. Heute ist das anders“, sagt er.

Ob das klappt, steht in den Sternen, aber zumindest hat Slime die Brücke vom revolutionären Gestern ins realpolitische Heute geschlagen. Rapper Casper, ein Mädchenschwarm und „Bravo“-Star, lud sie ins Vorprogramm ein, die Band war auf dem letzten Deichkind-Album zu hören. Dirk Jora macht das froh, zeigt es doch, dass Slime nicht zur Früher-war-alles-besser-Band mutiert ist, die nur aus sentimentaler Erinnerung an die eigene Jugend gehört wird. „Als wir 2010 zwei ausverkaufte Konzerte in der Markthalle gespielt haben, war das nicht nur ein Klassentreffen, es waren auch viele junge Leute da“, erinnert er sich mit einem Lächeln. „Wäre es anders gewesen, hätten wir auch gar nicht weitergemacht.“

Ob er zufrieden ist mit seinem Leben? Jora zögert kurz, schließlich ist er finanziell nicht auf Rosen gebettet. Doch dafür hat er Ochsenzoll, Fuhlsbüttel und Ohlsdorf bis heute vermieden. Das ist mehr, als er jahrzehntelang selbst erwartet hätte.

„Hamburg Crash Fest“ mit Slime, Bad Religion, NoFX u.a., Do 22.8., 16.30, Trabrennbahn Bahrenfeld, Karten zu 37,90 im Vvk.