In diesen Tagen wird beim NDR der neue Radio-„Tatort“ aufgenommen. Sandra Borgmann ermittelt als Kommissarin, die Vorlage hat Elisabeth Hermann geschrieben

Hamburg. Man könnte es als Glück im Unglück bezeichnen. Denn wäre dies ein Film, hätten die Dreharbeiten womöglich unterbrochen werden müssen. Hauptdarstellerin mit Hinkefuß, das geht schließlich nicht. Allerdings steht Sandra Borgmann in diesen Tagen nicht vor einer Kamera, wie sonst so oft, sie nimmt Szenen für den neuen ARD-Radio-„Tatort“ des NDR auf. Weshalb der gebrochene, mit blauem Klebeband getapte kleine Zeh den Ablaufplan nicht im Geringsten stört. Borgmann trägt im Aufnahmestudio Flipflops, für den Nachhauseweg wartet eine Art Beton-Schuh mit Klettverschluss in der Kaffeeküche. Sie macht eine kleine Singübung ins Mikrofon, ba-da-ba-dam.

Es ist der zweite Aufnahmetag für die Sprecher im NDR-Studio Rotherbaum. Wer je an einem Filmset war, ist überrascht von der Unaufgeregtheit und leisen Konzentration einer Hörspielproduktion. Keine langen Wartezeiten, kein technisches Brimborium. „Ans Wasser“ heißt der neue Radio-„Tatort“, geschrieben hat ihn die Krimiautorin Elisabeth Hermann. Mord und Ermittlung konzentrieren sich dieses Mal auf Wilhelmsburg. Neues, schickes IBA-Wilhelmsburg wie auch das Wilhelmsburg mit den abgewohnten Häusern im Reiherstieg. Es geht um zwei Mädchen, die um jeden Preis aus ihrem Viertel raus wollen. „Meine Hauptfiguren sind keine Architekten, Baulöwen und Hausbesetzer. Es sind junge Menschen, die langsam eine Ahnung davon bekommen, dass Wilhelmsburg sehr schnell Endstation werden kann“, sagt Autorin Elisabeth Hermann, die bereits zum vierten Mal eine „Tatort“-Folge fürs Radio geschrieben hat.

Der Fall beginnt mit dem Leichenfund eines Fotografen. War er unterwegs zur Gartenschau? Und was hatte er beim sogenannten Algenhaus, dem Gebäude mit der Bioreaktorfassade, verloren? „Morgen, Breuer, LKA“, grüßt Sandra Borgmann alias Kommissarin Bettina Breuer mit Kommandostimme, als sie am Tatort eintrifft. Breuer ist der Typ, der keine Zeit vertrödelt. Sie nennt die Dinge beim Namen, und nicht gern zweimal. Gemeinsam mit Breuer beugt sich Lutz Petersen, ihr Partner im Dezernat Organisierte Kriminalität, über die Fotografenleiche. Petersen ist ein gemütlicher Kollege, der am liebsten über einer Tasse dampfenden Kaffee über den Fall sinnieren würde und sich noch immer über seine Beförderung wundert. Gesprochen wird er von dem Schauspieler, Regisseur und Intendanten Rolf Petersen, der sich buchstäblich hineinwirft in seinen Part. Er rollt beim Sprechen die Hüften, wirft die Arme in die Luft, als wollte er einen steil geschossenen Ball fangen. „Der Körper soll ja mitschwingen“, sagt er später.

Borgmann dagegen steht fast unbeweglich an ihrem Platz. Anders als beim Film hat sie den Text nicht auswendig gelernt, sie schaut auf das beschriebene Papier auf ihrem Stehpult. „Die Kunst besteht darin, so zu lesen, dass es nicht abgelesen klingt“, sagt sie. Achselzucken. Sie mag ihre Rolle, erzählt sie. „Die Breuer hat ein paar schöne Macken und mampft auch mal einen Hamburger, so etwas macht Spaß.“ Regisseur Sven Stricker lobt Borgmanns „tolle Hörspielstimme“: „Die Stimme ist herb und sensibel zugleich. Sandra kann alles sprechen von extremer Empathie bis zu rauer Männlichkeit.“ Passt perfekt zur sachlich-kühlen Breuer, der nur selten ein Stück Emotion in die Stimme hinein bricht. Wenn das passiert, ist häufig Breuers Sidekick Jac Garthmann mit im Spiel, ein leicht verlebter V-Mann und Ex-Musiker, der gern mal Vorschriften verbiegt. Dargestellt wird Garthmann von dem ausdrucksstarken Theatermann Martin Reinke. Wie sein großer Fernsehbruder, hat es auch der Radio-„Tatort“ nicht schwer, namhafte Schauspieler als Sprecher zu verpflichten, und gilt ebenfalls als Vorzeige-Projekt der ARD. Im Januar 2008 gestartet, produzieren die Sendeanstalten reihum Hörspiele, die dann in den Kulturwellen aller beteiligten Anstalten zu hören sind. Im Anschluss steht der Krimi vier Wochen als Stream und Download im Netz auf www.radiotatort.ard.de.

„Im letzten Drittel war die Spannung ein bisschen raus, ruft Regisseur Stricker seinen Sprechern im Aufnahmestudio zu. Ein schmuckloser, komplett schallgedämpfter Raum, man fühlt sich wie in einer Unterwasserwelt. Wie in Isolationshaft. Neonröhren, Stehpulte, Mikrofone mit Ploppschutz. Dadurch werden die Konsonanten abgedämpft, der Luftdruck wird entschärft. Geräusche wie der Klang des Reißverschlusses beim Aufziehen des Leichensacks werden später in die Aufnahmen gemischt. Teils aus Archiven, teils an Originalschauplätzen aufgenommen. Für „Ans Wasser“ ist die Regieassistentin Ilka Bartels extra nach Wilhelmsburg gefahren. Schließlich hat jeder Stadtteil seinen eigenen Sound. Gehofft hatte sie auf das plätschernde Wasser kleiner Kanäle, stattdessen brausten ihr Autobahngeräusche in den Ohren. Wilhelmsburg klingt vor allem nach viel Verkehr. Eingefangen hat Bartels auch die Geräuschkulisse des Algenhauses; „glucksend und schwappend“ klinge das Gebäude, sagt sie.

Nach einem Tag im Aufnahmestudio gehe ihr manchmal „der Raum in den Ohren flöten“, sagt Sandra Borgmann. In solchen Fällen helfe nur Kaffee. Manches ist eben doch nicht anders als beim Film.

„Ans Wasser“, 14.9., 21.00 Uhr, NDRinfo. Voraufführung am 10.9., igs-Gelände. Infos unter ndr.de/igs