Zum größten Eisenbahnraub der Geschichte zeigt Arte ein Dokudrama – mit ungewöhnlichen Szenen und neuen Erkenntnissen über die Täter

Nicht jeder Raubüberfall schafft es in die Jahrhundertchroniken. Dem Postzugraub in Großbritannien ist es gelungen. Unter den herausragenden Ereignissen des Jahres 1963 steht er heute neben dem deutsch-französischen Elyséevertrag (Januar), der Eröffnung der Vogelfluglinie zwischen Hamburg und Kopenhagen (Mai), Kennedys Berlin-Besuch mit dem berühmten Satz „Ich bin ein Berliner“ und der Wahl von Papst Paul VI. (Juni). Im Juni musste im Zuge einer Spionage- und Callgirl-Affäre auch der britische Kriegsminister John Profumo zurücktreten. Kaum hatten sich die Briten davon erholt, als der Postraub für Wochen alle anderen Nachrichten in den Schatten stellt.

Um 3 Uhr morgens am 8. August wird der Postzug von Glasgow in der Nähe von London durch ein manipuliertes Signal zum Stehen gebracht. Im ersten Waggon befinden sich in dieser Nacht Säcke voller gebrauchter Pfundnoten, die bei der Nationalbank geschreddert werden sollen. In den hinteren Waggons sind 70 Beamte damit beschäftigt, reguläre Post vorzusortieren. Die Räuber koppeln Lok und Geldwaggon in der Dunkelheit ab und fahren damit 800 Meter weiter zur Bridego-Eisenbahnbrücke. An der einsam gelegenen Stelle laden die 16 Männer innerhalb einer Viertelstunde 128 schwere Geldsäcke auf Militärlastwagen um. Noch bevor die Postbeamten merken, dass der Zug ohne sie weitergefahren ist, hat sich die Gang schon auf Nebenstraßen in einem abgelegenen Bauernhof abgesetzt. Erbeutet hat sie 2.631.684 Pfund Sterling in kleinen, nicht registrierten Scheinen. Das entspricht der damals ungeheuren Summe von 29,5 Millionen D-Mark, heute wären es laut BBC rund 46 Millionen Euro.

Auch in Deutschland schlägt die Nachricht ein wie eine Bombe. „British crime stories“ faszinieren die Deutschen ohnehin, die Agatha Christies „Miss Marple“-Romane kennen und seit 1959 im Fernsehen die britisch angehauchten Edgar-Wallace-Verfilmungen verfolgen. Die heimliche britische Sympathie für die Posträuber, die Scotland Yard eine harte Nuss zu knacken geben, schwappt auch nach Deutschland über. Im Januar 1964 werden zwar zwölf angeklagte Verdächtige zu drakonischen Haftstrafen zwischen 15 und 30 Jahren verurteilt, aber der Kopf der Bande, Bruce Reynolds, ist immer noch nicht gefasst. Und bei spektakulären Gefängnisausbrüchen gelingt zwei Verurteilten die Flucht, unter ihnen Ronald Biggs.

Der größte Postraub der Geschichte bleibt ein heißes Thema – vor allem, als er 1965 in Deutschland unter dem Titel „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ verfilmt wird. Regisseur John Olden, verheiratet mit Inge Meysel, besetzt die Hauptrollen mit bekannten Schauspielern wie Horst Tappert (als Bruce Reynolds), Günter Neutze, Grit Böttcher, Siegfried Lowitz (als Chief Inspector). Aus rechtlichen Gründen müssen die Namen der Posträuber geändert werden – aus Reynolds etwa wird „Donegan“, aus Biggs „Finegan“. Weil Olden in Großbritannien keine Drehgenehmigung erhält, filmt er fast alle Szenen in Deutschland, den Überfall auf den Postzug etwa an einer eingleisigen Bahnstrecke nördlich von Göttingen; die Eisenbahnbrücke beim Dorf Moringen sieht tatsächlich aus wie eine Kopie der Bridego-Brücke. Der NDR mietet von der Bundesbahn einen ganzen Zug, auf dem der Schriftzug „Royal Mail“ angebracht wird. Einige Szenen – wie zum Beispiel das heimliche Treffen des flüchtigen Reynolds mit seiner Frau – werden in London mit versteckter Kamera in einem roten Doppeldecker-Bus aufgenommen. Bei der Erstausstrahlung vom 8. bis 13. Februar 1966 entpuppt sich der Fernsehdreiteiler als Straßenfeger wie bisher nur die „Durbridge“-Krimis: Sagenhafte 84 Prozent der deutschen TV-Besitzer gucken Teil zwei.

Jetzt, zum 50. Jahrestag des Postraubs, rollt Arte die Geschichte dieses Jahrhundertraubs in einem Dokudrama wieder auf. Es heißt in Anlehnung an das Original „Die Gentlemen baten zur Kasse“ und enthält neben Filmszenen aus dem Fernsehdreiteiler zahlreiche Originalaufnahmen aus alten BBC-Nachrichten, Interviews mit Überlebenden und Zeitzeugen und noch nie gezeigtes Filmmaterial, zum Teil aus privaten Archiven. Regisseur Carl-Ludwig Rettinger stützt sich dabei auch auf neue Erkenntnisse, denn erst in diesem Jahr sind Unterlagen über den Postraub aus dem britischen „Royal Post Archive“ zugänglich gemacht worden. Rettinger zeichnet den Werdegang der Räuber nach und nimmt die damalige Polizeiarbeit kritisch unter die Lupe. Durch die Interviews ehemaliger Posträuber und ihrer Angehörigen geht allerdings auch Distanz verloren.

Denn die „Gentlemen“-Gangster, die angeblich mit Stockschirm und Bowlerhut unterwegs waren und sich einer Art Berufsstolz verpflichtet fühlten, sind nichts anderes als ein lange gepflegter Mythos. Ein Urheber dieses Mythos war der Hamburger Journalist und Drehbuchautor Henry Kolarz (1927–2001), der 1964 für den „Stern“ über den Posträuber-Prozess berichtete, daraus eine Serie machte und später auch das Drehbuch für den Fernsehfilm verfasste. Er malte das Bild einer Räuberbande, die mit Stil und Arbeitsethos zu Werke ging, daher auf besondere Sympathie hoffen darf und Respekt sogar bei Scotland Yard erntet, vor allem, weil sie gewaltfrei blieb. Diesem Bild saß 1996 sogar noch ein Kollege der Zürcher „Weltwoche“ auf, als er schrieb, Ronald Biggs sei „erklärter Anhänger des humanen Postraubs ... Postraub ist für ihn eine Kunstform.“

So wirken die überlebenden Posträuber auch im Dokudrama: eine geschrumpfte Runde geläuterter älterer Herren, die sich noch ab und zu in dem Londoner Pub The Star Tavern in Belgravia treffen, laut Eigenwerbung „in den 50er- und 60er-Jahren das Stammlokal von führenden Londoner Kriminellen“. Bruce Reynolds, der während der Dreharbeiten im Februar 2013 starb, fährt im (allerdings geliehenen) Sportwagen vor, „Kollege“ Thomas Wisbey trägt einen gediegenen Tweed-Dreiteiler.

Die Ehefrauen hatten bei den Treffen der Bande für Scotch und Tee zu sorgen

Der Film macht aber auch deutlich, dass die tragenden Figuren von „The Firm“, wie sie sich selbst nannten, aus einem eher proletarischen und kleinkriminellen Milieu stammten. Reynolds, Charlie Wilson, Gordon Goody, Roger Cordrey waren alle in dem Südlondoner Arbeiterviertel Battersea aufgewachsen und kannten sich aus Kinderzeiten. Fast alle Posträuber waren verheiratet und Familienväter. Etliche, unter ihnen Reynolds und Biggs, waren vorbestraft und hatten bereits mehrfach im Gefängnis gesessen, meist wegen Raubes und Hehlerei. Reynolds unterhielt zur Tarnung einen Ramschladen, der in „Die Gentlemen bitten zur Kasse“ zum Antiquitätengeschäft mutierte. Biggs hatte einen kleinen Schreinerbetrieb und ließ sich von Reynolds für den Postraub anwerben, als er sich bei seinem alten Knastbruder Geld leihen wollte. Die Partnerinnen wurden in der Regel nicht über die laufenden „Projekte“ informiert, wie Wisbeys Ehefrau erzählt, sondern hatten bei den Bandentreffen für Tee und Scotch zu sorgen.

Reporter Kolarz habe in seinem Drehbuch aus den Gangstern nicht nur Snobs gemacht, schreibt der Kulturwissenschaftler Dirk Schindelbeck, sondern auch einen künstlichen „Klassengegensatz“ innerhalb der Gang erfunden: „Auf der einen Seite der Gentlemen-Clan, der allein die Kopfarbeit macht, Verantwortung trägt, gewaltlose Ausführung garantiert und dem es beileibe nicht nur um Geld, sondern immer auch um Distinguiertheit, Sportsgeist, Stilerlebnis geht. Auf der anderen Seite eine dumpfe Proletentruppe, die von den Gentlemen für anfallende Drecksarbeiten angemietet wird“ und zu denen auch Ronald Biggs gehört habe. Schindelbeck zufolge hatte dieser Pseudo-Gegensatz einen Zweck: Kolarz wusste nichts über die Beziehungen in der Gang, musste aber spannende Dialoge schreiben. So konstruierte er zwischen Horst Tappert, dem „noblen Räuber“, und dem „renitenten“ Biggs (gespielt von Kurt Conradi) einen Konflikt, als es um die überstürzte Flucht aus dem Unterschlupf geht.

Rettingers Dokudrama verschweigt nicht, dass der Lokführer des Postzuges durch einen Schlag auf den Kopf schwer verletzt wurde – „gewaltfrei“ war das nicht – und danach nie wieder seinen Beruf ausüben konnte. Dennoch: Der höfliche Kriminelle mit Hut und Schirm überdauerte in vielen Filmrollen, wie Eddi Arent in den Edgar-Wallace-Filmen oder Wolfgang Völz in der Reihe „Graf Yoster gibt sich die Ehre“ bewiesen.

Neu in Rettingers Dokudrama sind die Belege dafür, wie sehr die britische Polizei in den 60er-Jahren mit dem kriminellen Milieu verzahnt war: Sie ließ sich bestechen. Auch ein Teil der Postraubbeute wurde in mehreren Tranchen über einen Mittelsmann an den Chef des damaligen Raubdezernats von Scotland Yard gezahlt, um für angeklagte Posträuber eine Strafminderung zu erreichen. In einigen Fällen klappte das auch. Erst Thomas Mark, der Ende der 60er-Jahre die Kriminalabteilung der Londoner Metropolitan Police übernahm, setzte ein umfangreiches Anti-Korruptions-Programm in Gang, durch das mehrere Beamte hinter Gitter verschwanden.

„Die Gentlemen baten zur Kasse“ ist trotz aller Unschärfen ein gelungenes Doppelporträt geworden: Zum einen zeichnet es eine Zeit nach, in der Post und Bahn noch ehrfurchtgebietende und mächtige Staatsunternehmen waren. Eine Zeit, in der es noch keine EC-Karten und keinen elektronischen Zahlungsverkehr gab, in der Gangster wie auch Polizisten oft aus Telefonzellen kommunizieren mussten und die globalisierte organisierte Kriminalität eine Ausnahme blieb. Zum anderen skizziert Rettinger die Schicksale von Männern, die sich mit dem Postraub nicht technisch, aber vielfach psychologisch übernahmen. Das „gute Leben“, das sie sich erhofft hatten, blieb für die meisten ein Traum. Selbst Biggs saß nach seiner Flucht jahrzehntelang – und inzwischen völlig mittellos – in Brasilien fest, bis er 2001 nach zwei Schlaganfällen nach Großbritannien zurückkehrte und noch acht Jahre in einem Hochsicherheitstrakt absaß. Zwei der ehemaligen Posträuber begingen nach ihren Haftstrafen Selbstmord.

Horst Tappert (1923–2008) hat in seinen Erinnerungen geschrieben, die Rolle als Posträuber sei sofort „mein Fall gewesen“. Er schrieb Bruce Reynolds sogar ins Gefängnis, als der 1968 gefasst wurde. 1980 nach der Freilassung trafen sich beide auf Initiative der „Hörzu“ in London, besuchten die Bridego-Brücke und mochten sich „auf Anhieb“, so Tappert. Als der Schauspieler 1998 in Köln den Telestar (heute Deutscher Fernsehpreis) für sein Lebenswerk erhielt, wurde ihm die Statue von dem damals 67-jährigen Reynolds überreicht – 35 Jahre nach dem Raub, der Geschichte schrieb.

„Die Gentlemen baten zur Kasse“, Teil 1 und 2, Freitag, 2.8., 20.15 Uhr, auf Arte