Wie macht man eine lokale Nachrichtensendung wie das „Hamburg Journal“? Das Abendblatt hat im NDR-Landesfunkhaus hinter die Kulissen geschaut

Hamburg. Regieraum, 19.40 Uhr. Arne Siebert starrt auf die Tabelle, die über seinen Bildschirm gleitet. Plus 51 zeigt der Balken an, das heißt: Die Sendung, seit zehn Minuten läuft sie, hat 51 Sekunden Überhang. „Die müssen wir reinholen“, murmelt Siebert. Andernfalls ginge das „Hamburg Journal“ an diesem Dienstag unsanft zu Ende. Die anschließende Tagesschau wartet nämlich nicht. Da hilft nur eins: beschleunigen. „Die 19 Uhr 30“, wie die Abendausgabe hausintern genannt wird, ist Ziel- und Höhepunkt eines Redaktionstages im NDR-Landesfunkhaus in Lokstedt. In diese 30 Minuten – und in der 18-Uhr-Ausgabe – mündet die Arbeit von Redakteuren, freien Mitarbeitern, von Kameraleuten, Assistenten, Producern und natürlich den Moderatoren, gut und gern 18 Personen. Das Zusammenspiel von Moderation, fertigen Beiträgen und sogenannten Schalten, also Liveübertragungen von außerhalb des Studios, ist so komplex und störanfällig wie ein Sinfoniekonzert; jeder Sekundenbruchteil zählt. Hin und wieder sagt jemand eine Zahl oder einen Halbsatz, sonst ist in dem fensterlosen Raum mit den zahllosen Monitoren nur das zu hören, was an Ton gesendet wird. So ein konzentriertes Schweigen muss im Cockpit eines Raumschiffs herrschen.

Wie anders noch am Mittag: Im Mittelgang zwischen den Redaktionsbüros versammeln sich die Mitwirkenden zur Konferenz um einen kirschholzfurnierten Tisch. Mit seiner Überlänge und -höhe sieht er aus wie ein Bartresen, draußen strahlt ein ferienblauer Juli-Himmel. Fehlen nur noch die Drinks, bis Arne Siebert als Redakteur vom Dienst die Planung vorstellt: Die Reportage über einen Einbrecher, der sich durch seinen Ohrabdruck verriet, wird Aufmacher. Das Interview mit Dora Heyenn von der Linken bestreitet die 18-Uhr-Ausgabe und kommt auch in der Abendsendung vor. Und ein Kandidat für den Vorspann ist ein verwaistes Biberkind, das in der Wildtierstation aufgepäppelt wird, samt Teddy.

Die Themenmischung macht’s. Die wird sich bis zum Abend noch oft ändern, schließlich hat die Sendung den Anspruch, den Tag repräsentativ abzubilden. Sechs Teams kann das „Hamburg Journal“ jeden Tag hinausschicken. Am frühen Nachmittag sind die ersten Autoren vom Drehen zurück. Sie schreiben ihre Texte und sichten schon mal das Material. Die Zeitfenster in den eigentlichen Schneideräumen mit den Cuttern sind nämlich sehr eng.

Regieraum, 19.44 Uhr. Jens Riewa hat etwas schneller gesprochen. Der Balken zeigt noch plus 48. „Zehn und Achtung“, sagt der Nachrichtenregisseur in die Stille. Das geht an Riewa: noch zehn Sekunden, bis er nicht nur auf dem Monitor im Regieraum zu sehen ist, sondern auch für die Zuschauer.

Am Nachmittag im Sendesekretariat summt es förmlich, so viele Drähte laufen dort zusammen: Dort arbeitet die Onlineredaktion, dort stellt der zuständige Redakteur die Nachrichten zusammen, Assistenten suchen die Standbilder für den Nachrichtenblock heraus. Hinter einer Wand mit Monitoren schreiben Jens Riewa und Kristina Gruse ihre Moderationsansagen. „Mir macht es viel mehr Spaß, wenn ich meine eigenen Texte spreche“, sagt Gruse. „Ich komm ja nicht zum Vorlesen her!“

Um 17 Uhr sitzt sie schon in der Maske, denn anders als Riewa ist sie auch in der 18-Uhr-Ausgabe dran. Die Maskenbildnerin streicht mit einem Pinsel über Gruses Augenbrauen. Lidschatten, Haarspray oder Puder, nichts bleibt dem Zufall überlassen. „Um die Quaste kommt hier keiner herum, auch Männer nicht“, sagt Gruse und lacht.

Bevor die Vorabendausgabe auf Sendung geht, zeigt Kristina Gruse ihren Arbeitsplatz. Der ist mit rotem Klebeband markiert. „Da soll meine Gürtelschnalle sein“, sagt sie und deutet auf den von der Kamera abgewandten Rand der Tischplatte im Studio. Dahinter sieht es anders aus als der dezent geschwungene Hintergrund, vor dem die Moderatoren allabendlich ihr Publikum begrüßen. Zahllose Füße haben den Bodenbelag blass geschabt, in einem offenen Fach liegen Stifte, Krimskrams, Papiertaschentücher.

Arne Siebert geht derweil durch die Schneideräume. Ein Autor hat einen Film über die Erneuerung der Landebahn auf dem Flughafen gemacht. Er führt die Rohfassung vor und spricht dazu seinen Text, in fernsehtauglicher Intonation. Siebert lässt kein Auge von dem Monitor. „Wenn du ein Flugzeug auf die Kamera zurollen lässt, denkt der Zuschauer, gleich gibt’s einen Unfall“, sagt er. „Dann hört er deinem Bericht nicht mehr zu. Das musst du auffangen.“ Der Cutter nimmt den Moment mit hinein, in dem das Flugzeug vor der Baustelle abbiegt, Siebert ist zufrieden.

Regieraum, 19.51 Uhr. Am Ende des zweiten Nachrichtenblocks ist der Überhang wieder bei 51 Sekunden. „Willst du was rausschmeißen“, fragt der Regisseur durchs Mikro, während der nächste Beitrag läuft, „oder kriegst du das mit der Verabschiedung hin?“ Arne Siebert sucht unterdessen einen Beitrag heraus, den er weglassen würde.

Zuletzt hat er den Sendeplan kurz vor Beginn der Sendung überprüft. „Für die richtige Dramaturgie muss man die Stücke gesehen haben“, sagt er, „das kann man nicht theoretisch entscheiden.“ Selbst nach Sendebeginn werden häufig noch Themen ausgetauscht. Überregionale Eilmeldungen verlesen die Moderatoren mit Hinweis auf die große Schwester „Tagesschau“.

Regieraum, 19.56 Uhr. Ein Dutzend Menschen zieht die Luft durch die Zähne. Es klingt, als ob beim Fußballgucken ein Stürmer in Tornähe gerät: Der Teleprompter hängt fest, Riewa kann nicht vom Bildschirm ablesen. Und schon atmen sie wieder aus: Nach einem unmerklichen Seitenblick schaut Riewa auf die Textkarte in seiner Hand – und spricht weiter, als wäre nichts gewesen. Natürlich kenne er auch Lampenfieber, hat er am Nachmittag erzählt: „Aber man achtet immer weniger auf die Kamera. Und eine gewisse Anspannung braucht es einfach.“

Regieraum, 19.58 Uhr. Siebert hat eine Meldung rausgeworfen. Den restlichen Überhang macht Riewa mit Sprechtempo wett. Eine Punktlandung legt er hin. Von der Anspannung im Regieraum haben die Zuschauer nichts mitbekommen. Nun löst sie sich spürbar. Nach wenigen Minuten sind all die Menschen, die eben noch ganz in ihren Funktionen aufgingen, in den Sommerabend verschwunden.