Die ARD porträtiert in einer Dokumentation den argentinischen Juristen Luis Moreno Ocampo, Chefankläger am Internationalen Strafgerichtshof

Die Bilder sind erschütternd und kaum zu ertragen. Ein afrikanischer Junge wird von Milizen aufgehalten, er bettelt um sein Leben, doch sein Flehen nützt nichts. Hinterrücks erschießen die Uniformierten ihn und lassen ihn auf der Straße liegen. Eine andere Szene zeigt eine israelische Fernsehsendung auf Channel 10, in der ein Moderator während des Gaza-Krieges mit einem Palästinenser telefoniert. Während des Gesprächs schlägt eine Granate in das Haus des Arabers ein und tötet seine Kinder. Der Mann schreit und schreit und schreit, der Moderator ist völlig hilflos und liefert unfreiwillig den Beweis, wie sehr die palästinensische Zivilbevölkerung unter den israelischen Luftangriffen 2008 und 2009 zu leiden hatte. Zwei Beispiele von vielen, mit denen der Internationale Strafgerichtshof (ICC) konfrontiert wird. Seit 2002 kümmert sich dieses Gericht um Anklagen wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen.

Erster Chefankläger des ICC in Den Haag wurde der Argentinier Luis Moreno Ocampo. Über ihn haben die Filmemacher Marcus Vetter und Michael Gentile eine 90-minütige Langzeitdokumentation gedreht. Sechs Jahre lang haben sie Ocampo im Gerichtssaal, in seinem Büro und auf Dienstreisen mit ihrer Kamera begleitet, um Einblick in die schwierige Arbeit des Juristen zu bekommen. Ocampo hatte sich bereits als junger Anwalt einen Namen gemacht, als er 1985 mit zu den Anklägern im Tribunal gegen die Mitglieder der Militärjunta in seiner argentinischen Heimat gehörte. In den 90er-Jahren schied der engagierte Jurist aus Protest aus dem Staatsdienst aus, weil weitere Verfahren gegen die Verantwortlichen der Diktatur nicht eröffnet und verhindert wurden.

In „Der Chefankläger“ wird deutlich, mit welchen Schwierigkeiten Ocampo zu kämpfen hat, obwohl seine Organisation und ihre Aufgabe eigentlich über alle Zweifel erhaben ist. 116 Staaten hatten 1998 in Rom diesen Internationalen Strafgerichtshof gegründet, aber Weltmächte wie die USA und Russland und auch Israel haben das Abkommen von Rom nicht unterzeichnet, ganz zu schweigen von Diktaturen oder autokratischen Systemen wie Iran, Syrien, Jemen oder Sudan. In diesen Staaten können Ocampo und seine Ermittler keine Straftat verfolgen. Genauso wenig war es dem 61-Jährigen möglich, sich mit den Anschuldigungen der Palästinenser gegenüber Israel zu befassen. Der Film zeigt, wie er eine Delegation empfängt, doch ihr eine Absage erteilen muss, weil Palästina nach Uno-Recht kein eigenständiger Staat ist. „Es ist enorm wichtig, dass der ICC-Chefankläger neutral bleibt“, sagt Ocampo. Es muss sich strikt an seine rechtlichen Rahmenbedingungen halten, um sich nicht den Vorwurf einseitiger Parteinahme auszusetzen. Eine Bewertung und Untersuchung des Gaza-Krieges im Hinblick auf Kriegsverbrechen war ihm deshalb nicht möglich.

Ein Hauptaugenmerk der bisherigen Arbeit des ICC liegt auf den Kriegsverbrechen, die täglich in vielen afrikanischen Staaten verübt werden. Exemplarisch dafür war der Fall des kongolesischen Milizenführers Thomas Lubanga Dyilo. Behörden des Kongo verhafteten ihn 2005, stellten ihn jedoch nicht vor ein nationales Gericht, sondern überstellten ihn nach Den Haag. Der Kongo bat das ICC, Vorfälle im Osten des Landes zu untersuchen, insbesondere die Rekrutierung von sogenannten Kindersoldaten.

Der Lubanga-Dyilo-Prozess war der erste Fall für Ocampo und sein Team und deshalb von besonderer Bedeutung. Die Problematik umreißt Ocampo mit dem Satz: „Bei Kindersoldaten sieht man kein Blut, sie haben überlebt, aber sie bluten innerlich.“ Doch es gelingt ihm und seiner Stellvertreterin Fatou Bensouda ehemalige Kindersoldaten zu Aussagen zu bewegen und eine Verurteilung von Lubanga Dyilo zu erreichen. Am 10. Juli 2012 wurde der Milizenführer wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten für schuldig befunden und zu 14 Jahren Haft verurteilt. Gleichzeitig war es Ocampos letzter Arbeitstag beim ICC.

Der Fall erregte viel öffentliches Aufsehen. Hilfe erhielt Ocampo von Ben Ferencz, einem inzwischen 93 Jahre alten Ankläger bei den Nürnberger Prozessen gegen Nazi-Größen. Auch die politisch und sozial engagierte US-Schauspielerin Angelina Jolie kam nach Den Haag, um den Prozess zu verfolgen und Ocampo zu seiner Arbeit zu gratulieren. Insgesamt 26 Fälle werden vom ICC untersucht. Immerhin drei Staatschefs sind im Visier des Internationalen Strafgerichthofs. Was wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheint, ist zumindest ein Anfang. Der Slogan des Gerichts ist eindeutig: „Gerechtigkeit – Verantwortung für die Zukunft“.

„Der Chefankläger“, heute, 22.45, ARD