Es war nach 28 Jahren der letzte Abend im Birdland, und die Musiker trafen sich zur gemeinsamen Jamsession. Nun ist der kleine Club endgültig dicht.

Hamburg. „Wollen Sie auch ins Birdland?“, fragt ein Passant. Jeder, der an diesem Abend die Gärtnerstraße hinunterläuft, scheint in den Jazzclub mit der Hausnummer 122 zu pilgern. Vor dem Eingang und der steilen Treppe nach unten steht ein Pulk von Leuten. Im Gespräch, rauchend, wartend. „Da würde ich nicht reingehen. Hier ist wenigstens frische Luft“, scherzt einer der Raucher. Eine Handvoll junger Frauen kommt von unten hoch und zwängt sich an der Schlange vorbei. Unten macht Heidi die Tür. Freundlich, aber bestimmt regelt die Frau von Besitzer Dieter Reichert den Einlass. Eigentlich geht nichts mehr. Der Jazzclub ist zum Bersten gefüllt, vielleicht so voll wie noch nie in den 28 Jahren seines Bestehens. Musiker und Jazzfreunde sind gekommen, um Abschied zu nehmen von einer Institution. Für Generationen von Muckern ist der Club in Eimsbüttel das Wohnzimmer gewesen, jetzt ist nach dem Willen von Reichert erst einmal Schluss. Dieser Abend im Birdland ist der letzte. Endgültig.

„Es ist traurig. Vielen Dank an die Kulturbehörde und an das Elbjazz-Festival. Jetzt kann man in Hamburg zweimal im Jahr Jazz spielen“, sagt Gerald Donker ironisch. Der Bassist ist einer von Dutzenden von Musikern, die zur Abschieds-Jamsession gekommen sind. Den weitesten Weg hat Judith Higgins hinter sich, eine Freundin von Reicherts Sohn Wolf. Die Saxofonistin lebt mit ihrem Mann in London, aber an diesem Abend möchte sie noch einmal dort in ihr Horn blasen, wo sie „so viele glückliche Momente“ hatte. Auf der Bühne ist es eng, das Publikum steht auf Tuchfühlung mit den Musikern, die Luft ist stickig, die Kellner haben Mühe, sich zu den Tischen durchzuzwängen, es kocht.

„Wir sind nicht verbittert, aber morgen wird sich bestimmt ein Gefühl von Traurigkeit einstellen, weil ein Abschnitt zu Ende geht“, sagt Heidi Reichert. 28 Jahre lang hat die Juristin ihren Mann bei der Arbeit für den Club unterstützt, der aus einer Liebhaberei heraus entstanden ist. Reichert hat den Jazzkeller unter einem Mietshaus, das ihm gehört, gebaut und ihn dem Verein Jazz Federation kostenlos zur Verfügung gestellt. Seit der heute 74 Jahre alte Architekt und Hobbymusiker nicht mehr im Berufsleben eingebunden war, hat er sich zusammen mit Frau und seinen Söhnen ausschließlich um das Birdland gekümmert. „Wir sind mit unserer Kraft am Ende und brauchen eine Pause“, sagt er. Privates sei zu kurz gekommen, die nächsten Wochen werde er mit der Abwicklung seines Clubs zu tun haben, Ende September, hofft er, kann er mit seiner Frau in den Urlaub fahren. Nach Kroatien.

Reichert muss in dieser Nacht viele Hände schütteln, soweit das bei der Enge überhaupt möglich ist. Gestandene Musiker bedanken sich bei ihm genauso wie junge, die an der hiesigen Musikhochschule studieren und donnerstags ins Birdland gekommen waren, um sich mit anderen zu messen und auszutauschen. Im Umkleideraum stapelt sich die Instrumentenkoffer, 20 Musiker hat Ralph Reichert für die finale Session eingeladen. Der älteste Reichert-Sohn verdient sein Geld als Profimusiker und Lehrer, gerade hat der Saxofonist eine erfolgreiche Italien-Tournee mit dem US-Posaunisten Curtis Fuller gespielt. „Ich hab mal mit der Anfangsformation gespielt, damit ich überhaupt drankomme“, sagt der 44-Jährige. Sein silbrig glänzendes Tenor hat er in einen kleinen Studioraum gebracht, von dem aus man über einen Monitor das Geschehen auf der Bühne verfolgen kann.

„Wir brauchen einen Bassisten“, ruft Tim Rodig. „Und einen Pianisten!“ Der Saxofonist organisiert die Band auf der Bühne gerade neu. Buggy Braune nimmt auf dem Klavierschemel Platz, nur der Bassist lässt noch auf sich warten. „Ich hab doch einige gesehen“, ruft Rodig ins Mikrofon. Aber heute dauert es etwas länger, bis man sich von seinem Gesprächspartner losgeeist hat. Obwohl fast jeder das Birdland-Ende mit dem Wort „traurig“ kommentiert, ist die Stimmung aufgeräumt. Musiker, die hier zusammen gejammt haben, sehen sich nach Jahren wieder, „Was machst du?“ ist eine der am häufigsten gestellten Fragen. Der Geräuschpegel der Gespräche im hinteren Teil des Clubs ist so hoch, dass von der Band kaum etwas zu hören ist. Rodig hat seine Band inzwischen komplettiert, Jürgen Attig bedient den Kontrabass.

75 Euro Gage erhält jeder der von Ralph Reichert eingeladenen Musiker. Die insgesamt 1500 Euro kommen von der Kulturbehörde – als letztes kleines Dankeschön. Jahrelang hat Dieter Reichert sich um eine höhere Förderung für seinen Club bemüht, mehr als ein paar Tausend Euro hat er aber nie bekommen.

Die mangelnde Unterstützung vonseiten der Stadt war einer der Gründe, warum er das Birdland jetzt schließt. Rainer Michalke, Leiter des Musikclubs Stadtgarten in Köln und des New Jazz Festivals in Moers, hat die Subventionen eines international ausgerichteten Jazzclubs auf 150.000 bis 300.000 Euro jährlich beziffert. „In Hamburg wird das Geld in Jazz-Verwaltung statt in Programme gesteckt“, kritisiert Reichert. 600.000 Euro hat er in den Ausbau des Clubs investiert, weitere 600.000 wären für Miete fällig gewesen, doch die Jazz Federation e.V. konnte den Club mietfrei nutzen. 600 Mitglieder hat der Verein, der Monatsbeitrag beträgt zwölf Euro, der Besuch der Konzerte ist für Mitglieder frei.

Die können sich an diesem Abend zum letzten Mal über erstklassigen Jazz made in Hamburg freuen. Die Band um Tim Rodig spielt Standards wie die Ballade „You Don’t Know What Love Is“ oder Sonny Rollins’ „Tenor Madness“. Der US-Saxofonist blickt von einem Gemälde auf das Geschehen, Rollins stand hier nie auf der Bühne, dafür aber so berühmte Kollegen wie Joe Henderson, Chet Baker, Wynton und Branford Marsalis, Diana Krall und Ray Brown. Ein wichtiges Kapitel Hamburger Jazzgeschichte ist – vorerst – zu Ende.

Dieter Reichert sperrt seinen Laden zu, aber er wird in den Räumen nichts verändern. „Ich kann jederzeit wieder aufschließen und das Licht anmachen. Nur Fassbier wird es nicht geben“, sagt er mit einem Schmunzeln. Das klingt fast wie ein Hoffnungsschimmer. Aber eben nur fast. Hamburgs Jazzer müssen sich ein neues Wohnzimmer suchen.