Geht man ohne Vorwissen in „The Deep“, den neuen Film des isländischen Regisseurs Baltasar Kormákur, fragt man sich nach 30 Minuten, was denn noch passieren soll. Zu diesem Zeitpunkt ist der etwas pummelige, gutmütige Seeman Gulli (Ólafur Darri Ólafsson) der einzige Überlebende eines Schiffsunglücks, das sich 1984 im eisigen Nordmeer zutrug. Mit fünf anderen war Gulli zur See gefahren, ein verhaktes Schleppnetz brachte den Kahn in Seitenlage, drei Seemänner starben sofort, zwei andere erfroren bald in den eisigen Fluten. Doch Gulli überlebte wie durch ein Wunder.

Und von dieser Geschichte, die in Island jedes Kind kennt, erzählt Kormákur in einem Film, der wie eine Variante von „Der perfekte Sturm“ beginnt (nur in gut), dann zunehmend mystische Dimensionen bekommt, mit magischem Realismus flirtet und schließlich zu einer fast dokumentarischen Nacherzählung des Danach wird. Denn das Gulli sechs Stunden im Eismeer überlebte, bis zur entfernten Küste schwamm, dann noch barfuß ein Lavafeld mit spitzen Steinen durchquerte, um schließlich völlig erschöpft in sein Dorf zurückzukehren, stellte Mediziner und Wissenschaftler vor Rätsel, die nicht geklärt wurden.

Trotz all des Trubels, der um ihn entstand, schildert „The Deep“ Gulli als einen bescheidenen Mann, der seinen zufällig erlangten Heldenstatus ablehnt und eher an die Familien der gestorbenen Seemänner denkt. Und das ist es wohl, wovon Kormákur in seinem Film erzählen will: Von einem typischen Isländer, dem die Gemeinschaft auf der abgelegenen, kargen Insel im Nordatlantik wichtiger ist, als er selbst. Und damit von einer Haltung, die langsam verloren geht: Spätestens die Bankenkrise, die Islands Wirtschaft an den Rand des Ruins brachte, zeigte deutlich, dass von der Solidarität, die einst essenzieller Teil des isländischen Selbstverständnisses war, nicht mehr viel zu spüren ist. Und so ist „The Deep“ auch eine Ode an einen Typ Isländer, der vom Aussterben bedroht ist.

++++- „The Deep“ Island 2012, 95 Min., ab 12 J., R: Baltasar Kormákur, D: Ólafur Darri Ólafsson, Jóhann G. Jóhannsson, Thorbjörg Helga Thorgilsdóttir, täglich im Abaton; www.mfa-film.de