Die US-Soulsängerin Alicia Keys drückt in der Hamburger O2 World vor 8800 Fans lieber auf die Tränendrüse als auf das Gaspedal. So dominierten Pianoballaden das 100 Minuten lange Konzert. Aber am Ende gab es ein starkes Finale.

Hamburg. „Also mit den Karten kommen Sie hier aber nicht rein“, grollt der Ordner vor dem Eingang der Hamburger O2 World beim Konzert von Alicia Keys. Ein Blick auf die wenige Augenblicke vorher abgeholten Tickets zeigt das Problem: „Depeche Mode, 17.Juni, Imtech Arena – Front of stage“ steht da. Ein Irrtum des Veranstalters? Ein Zeichen? Das goldene Ticket für Willy Wonkas Schokoladenfabrik? Wir tauschen sie um.

Auch der bestuhlte Saal sorgt für Irritationen. Offiziell mit 8800 Besuchern ausverkauft, wurde die komplette Oberrangkurve abgehängt. Dafür ragt die Bühne so weit in den Raum, dass einige Zuschauer an den Seiten bestenfalls den Hintern von Alicia Keys sehen. Produktionsbedingt sollen viele Gäste kurzfristig umgesetzt worden sein, heißt es. Immerhin kann man von dort beobachten, wie die US-Soul-Chanteuse sich vor dem Auftakt hinter dem Vorhang noch mal dehnt, zum Intro aus „Streets Of New York“ und „Empire State Of Mind“ schon mal die Stimme loskollern lässt und dann mit ihrer Band und „Karma“ einsteigt.

Der Sound vorne ist mäßig, das Echo kommt so verzögert zum Hörer, als wäre das Motto „Bezahl ein Konzert und bekomme zwei“. Auch weiter hinten klingt „You Don’t Know My Name“ eher schrill als gefühlvoll, aber Alicias im Schatten agierende Mitmusiker schauen sich an, als würden sie tierisch grooven. Und auch die maue Akustik kann nicht davon ablenken, dass die New Yorkerin eine fantastische Stimme hat, die sich angenehm vom „belting“ oder auch „oversouling“ der Kolleginnen wie Christina Aguilera oder Mariah Carey abhebt. Statt möglichst viele Töne pro Takt aus dem Körper zu pressen und zu jaulen wie eine Sirene bei ABC-Alarm oder ein beinahe getroffener Fußballspieler, bringt Alicia Keys das, was sie singt, auf den Punkt.

Kein Effekt hascht die Aufmerksamkeit. Die bombastischen Videoeinspielungen, Showtreppen und Leuchteffekte, von denen nach dem Auftakt der „Set The World On Fire Tour“ in Frankfurt zu lesen war, entpuppen sich als unspektakuläre Ideal-Standard-Leinwände zwei wackelige Stiegen und Funzellicht. Circensische Artistik einer P!NK und Musical-Choreografien einer Kylie Minogue sind nicht das Ding der Keys, nur vier Tänzer und teilweise heftige Preise am Fanartikelstand (20 Euro für einen Schlüsselanhänger) sind Zugeständnisse an amerikanische Gala-Pop-Gewohnheiten.

Am liebsten sitzt Alicia Keys im einsamen Lichtkegel an ihren Klavieren, die sie öfter tauscht als ihre Garderobe, und drückt auf die Tränendrüsentasten. „Diary“ und „Fallin’“, das sind in Verse gefasste Dramen, die über Stuhlreihen gleiten, auf denen Damen in High Heels mit übergeschlagenen Beinen sachte mitwippen und auf Aufforderung bei „Tears Always Win“ mitklatschen. Tränen lügen vielleicht, aber sie verlieren nicht. So manches noch vor dem Konzert (zur Not auch auf dem Männer-WC) geprüfte Make-up verliert den Kampf gegen salziges Sekret. Sofern die Augen nicht zufallen.

Denn wer in dem steten Reigen von gefällig-gefühligem Pianopop aus Alicias Schokoladenfabrik mal luftigere, aufmunternde Kost erwartet, muss sich gedulden. „Another Way To Die“ zum Beispiel, das pompös polternde James-Bond-Duett mit Jack White, ist auf der Tour nicht im Programm und wird nur zweimal kurz als Teil von „A Woman’s Worth“ angedeutet. Sehr schade.

Dabei hat die 32 Jahre junge Universalkünstlerin, sprich Sängerin, Komponistin und Gelegenheitsschauspielerin, genug Esprit, um die Entfernungen einer sterilen Multifunktionsarena auf Clubmaße schrumpfen zu lassen. Wie sehr wünscht man sich, einen satten R&B-Heuler wie „If I Ain‘t Got You“ mit dem Sound und der unmittelbaren Nähe des Mojo Clubs zu erleben. Oder, wie schon 2004, auf der Freilichtbühne im Stadtpark, wo auch eine P!INK auf ein erdiges Level gehoben wurde, ohne weniger unterhaltsam zu sein. Aber es bleibt bei den Arenen, denn der Umsatz muss stimmen. Vor wenigen Wochen war Alicia Keys Stargast bei der Präsentation der neuen Mercedes S-Klasse in einem Flugzeughangar auf Finkenwerder. Große Halle, großer Reibach, das alte Spiel.

Ein Nummer-eins-Album wie zuletzt 2012 „Girl On Fire“ mag sich mit Platin schmücken und gut neben ihren 14 Grammys im Regal machen, aber die Zeiten waren 2001 beim Debüt „Songs In A Minor“ anders, zwölf Millionen Tonträger setzt auch eine Alicia Keys nicht mehr ab. Da kostet eine Konzertkarte aktuell eben bis zu 150 Euro. Das weckt entsprechende Erwartungshaltungen bei den Ticketkäufern.

Ob die in Hamburg erfüllt werden? Bei den letzten von 100 Minuten mit Sicherheit. „New Day“ und „Girl On Fire“ erhöhen das Tempo und locken die 8800 aus den Sitzen. Die Keys trommelt unter einem Sternenhimmel aus Smartphone-Displays, es wird getanzt, gejubelt und frenetisch applaudiert. „Behaltet euren Spirit und Gott schütze euch“, ruft die Lady aus Manhattan und lässt mit Sinatra-Zitaten und der überdimensionalen New-York-Hymne „Empire State Of Mind“, bei der Rapper Jay-Z vom Videoband eingespielt wird, ein starkes Finale von der Leine. Der Song schallt auch vor der Arena aus diversen Autoradios und Mobiltelefonen, dann senkt sich die Nacht über Stellingen. Im Stadion nebenan wird bald die Bühne für das nächste Großkonzert aufgebaut. Bleibt zu hoffen, dass kein Depeche-Mode-Fan Karten für Alicia Keys aus seinem Umschlag zieht.