Mit dem Maler Willi Sitte starb der letzte Großmeister des Sozialistischen Realismus der DDR. 1975 sorgte der Künstler in Hamburg für einen Skandal.

Hamburg/Halle (Saale). Kein anderer ostdeutscher Maler hat mit seiner Kunst und seinem kulturpolitischen Wirken so polarisiert wie der Hallenser Willi Sitte, der am Sonnabend im Alter von 92 Jahren in seiner Heimatstadt gestorben ist. Er galt als einer der wichtigsten Maler des Sozialistischen Realismus und als mächtiger Verbandsfunktionär, der die Kulturpolitik der SED bedenkenlos durchsetzte, zugleich aber auch als einer der kreativsten und wichtigsten deutschen Künstler des 20. Jahrhundert. Nach Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke (beide 2004) und Bernhard Heisig (2011) starb mit Sitte der letzte Angehörige der in der Szene als „Viererbande“ bezeichneten DDR-Staatsmaler, die 1977 auf der Documenta 6 in Kassel mit ihren figürlichen, oft allegorisch überladenen und kraftstrotzenden Werken Furore gemacht hatten und seither auch auf dem westeuropäischen Kunstmarkt gefragt sind.

Bereits zwei Jahre vor der Documenta hatte eine Willi-Sitte-Ausstellung in Hamburg zu einem mittelschweren kulturpolitischen Erdbeben geführt. Im April 1975 reiste der Hallenser, der damals schon Präsident des DDR-Künstlerverbands war, nach Hamburg, wo ihm der Kunstverein eine Retrospektive mit 120 meist großformatigen Gemälden und Zeichnungen aus den Jahren 1950 bis 1974 ausrichtete. Diese erste repräsentative Ausstellung eines offiziell anerkannten DDR-Künstlers wurde damals nicht nur als künstlerisches, sondern vor allem als kulturpolitisches Ereignis betrachtet. Der damalige Kunstvereins-Chef Uwe Schneede, der am Beispiel von Sitte einen Blick auf die Andersartigkeit der ostdeutschen Kunst, ihre ideologische Verankerung, aber eben auch deren durchaus interessanten Rückgriff auf kunstgeschichtliche Positionen etwa der 1920er- und 1930er-Jahre eröffnen wollte, geriet enorm unter Druck. Es gab Ausstritte aus dem Kunstverein und Anwürfe, deren Stil sich wohl nur aus der politisch enorm aufgeladenen Stimmung dieser Zeit erklären lässt. Das Abendblatt titelte damals „Schleichwerbung für den Sozialismus“, und die „Welt“ forderte gar ein „sichtbares Opfer“, bei dem es sich nur um den „Kopf von Kunstvereinsdirektor Schneede“ handeln könne. Doch schließlich beruhigten sich die Gemüter wieder, Schneede wurde nicht geopfert, sondern blieb bis 1985 im Amt, wechselte dann als Kunstgeschichtsprofessor nach München und erwarb sich von 1991 bis 2006 als Direktor der Hamburger Kunsthalle große Anerkennung.

Willi Sittes enorme zeichnerische Begabung war schon in der Kindheit aufgefallen. 1921 im tschechischen Kratzau geboren, studierte er an der Hermann-Göring-Meisterschule für Malerei in Kronenburg in der Eifel, die er aber 1941 aufgrund kritischer Äußerungen verlassen musste. Zur Wehrmacht einberufen, desertierte Sitte 1944 und schloss sich den italienischen Partisanen an. Nach der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei ließ er sich in Halle nieder, trat der SED bei und erhielt 1951 einen Lehrauftrag an der renommierten Kunstschule Burg Giebichenstein. Sein Stil war damals vom expressionistischen Realismus, vom italienischen Neorealismus und besonders von Picasso geprägt. Kein Wunder, dass er in Widerspruch zur Parteilinie geriet und zeitweise sogar mit Lehrverbot belegt wurde. Aber nachdem er Selbstkritik geübt hatte und sich fortan auch ästhetisch den Vorgaben anpasste, stand seiner Karriere nichts mehr im Weg. Es wurde Mitglied der Akademie der Künste, Chef des Künstlerverbandes, Volkskammerabgeordneter und von 1986 bis 1989 sogar Mitglied im Zentralkomitee, dem inneren Machtzirkel der SED. Doch obwohl er dutzendfach auch die offiziell geforderten Arbeiter, Bauern oder Sportler malte, dürfte seine expressive Körperdarstellung und die barocke Fleischeslust seiner Liebespaare und Aktdarstellungen den Geschmack manches treuen SED-Genossen überfordert haben. Auch in der DDR-Bevölkerung war er nie beliebt. „Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt“, spottete der Volksmund über den Künstler, den man stets als Teil des Systems wahrgenommen hat. Nach der Wiedervereinigung wurde es still um ihn. Als enorme Kränkung empfand er 2001 die Verschiebung einer ursprünglich zu seinem 80. Geburtstag geplanten großen Retrospektive, die das Germanische Nationalmuseum Nürnberg mit einer zuvor notwendigen Aufarbeitung seiner Rolle als SED-Funktionär begründet hatte. Als er in einem Interview behauptete, seine Macht nie missbraucht, sondern „zum Nutzen vieler Kollegen“ eingesetzt zu haben, stieß das bei ehemaligen DDR-Künstlern auf heftigen Widerspruch.

Eine späte Genugtuung erlebte der Staatskünstler, dem der Staat abhanden kam, an seinem 85. Geburtstag 2006 mit der Eröffnung der „Willi-Sitte-Galerie“ in Merseburg. In der anhaltinischen Stadt unweit von Halle ist ein großer Teil des Gesamtwerks untergebracht, das von einer Stiftung betreut wird. Mit Altbundeskanzler Gerhard Schröder und Wolfgang Böhmer, dem damaligen CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, als Ehrengästen der feierlichen Eröffnung, ließ sich dann doch noch etwas Staat machen.