Das Bucerius Kunst Forum würdigt Alexander Rodtschenko als zentrale Figur des künstlerischen Aufbruchs in der frühen Zeit der Sowjetunion.

Hamburg. Großartige Zeiten müssen es für den jungen Künstler gewesen sein, als das russische Zarenreich 1917 geräuschvoll zusammenbrach, der Krieg mit Deutschland beendet wurde und die Bolschewiki nach der Macht griffen, um eine neue Gesellschaft zu errichten. Alles stand nun auf null; die alten Institutionen, die alten Konventionen und Hierarchien, die Moralvorstellungen und gesellschaftlichen Beziehungen, aber auch die arrivierte Kunst hatten sich überlebt. Alexander Rodtschenko, den damals 26 Jahre alten Künstler, dem man auf der Kunstschule von Kasan den Spitznamen „Anti“ verpasst hatte, kam diese Umwälzung gerade recht. Alles schien auf einmal möglich, der Avantgardist, der von Picassos kubistischen Gemälden fasziniert war und selbst kubistische Kompositionen mit geometrischen Elementen kombinierte, erlebte einen kreativen Schub, einen regelrechten Höhenflug.

„Rodtschenko. Eine neue Zeit“, heißt der Titel einer Werkschau, die sich im Bucerius Kunst Forum dem Aufbruch in den ersten Jahren der Sowjetunion widmet, in dem sie die künstlerische Entwicklung einer der zentralen Persönlichkeiten der russischen Avantgarde nicht nur mit zentralen Werken dokumentiert, sondern mit einer gelungenen Ausstellungsgestaltung inszeniert und damit nachvollziehbar werden lässt. Zehn Jahre nach der letzten Rodtschenko-Retrospektive in Deutschland stellen die heute in Köln lebende russische Kunsthistorikerin Alla Chilova und Ortrud Westheider, die Direktorin des Bucerius Kunst Forums, Alexander Rodtschenko als einen radikalen Erneuerer vor – und als frühen Multimediakünstler. Zu sehen sind 150 Werke aus großen internationalen Sammlungen, aber auch aus einigen russischen Provinzmuseen, die eindrucksvoll vor Augen führen, wie Rodtschenko mit seinen Gemälden und Collagen, Fotografien und Fotomontagen, Plakaten und Typografien die Tradition buchstäblich über den Haufen warf. „Ich mache in jedem Werk ein neues Experiment“, hatte Rodtschenko als Credo formuliert, und in den früheren Jahren der Sowjetmacht wurde das Experiment zum Programm.

Gemeinsam mit Künstlerkollegen wie Wladimir Tatlin, Wassily Kandinsky oder Kasimir Malewitsch suchte Rodtschenko nicht nur nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, sondern nach einer neuen Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft. Der Kunstmarkt wurde erst einmal abgeschafft, das Private sollte fortan öffentlich sein, die Museen wurden umstrukturiert und die Künstler sollten neue Werke für eine neue Gesellschaft schaffen. Und dafür gab es keine Denkverbote, kein Projekt schien zu kühn, auch wenn sich manches Konzept der russischen Konstruktivisten von vornherein als utopisch erwies.

Während einige architektonische Ideen von Wladimir Tatlin oder El Lissitzky von vornherein unrealisierbar erschienen, scheint Rodtschenko tatsächlich an die Ausführbarkeit seiner gleichfalls kühnen Projekte geglaubt zu haben. Im oberen Ausstellungsraum wird das durch die reizvolle Gegenüberstellung des 1919 entstandenen Entwurfs für einen Kiosk und dem später danach gefertigten Modell deutlich. Rodtschenko beschäftigte sich mit Architektur, aber auch mit Design, entwarf Gebrauchsgegenstände und Möbel und orientierte sich dabei an Geometrie und Technik. Die Euphorie der Technik, die sich abzeichnenden Möglichkeiten der Luftfahrt und eine neue Urbanität mit futuristischer Architektur lagen damals in der Luft. Für Alexander Rodtschenko wurde die Linie zum Ausgangspunkt. Sie war nicht mehr nur Umriss, sondern wurde zu einem Werkzeug, mit dem er Licht und Raum, Form und Bewegung darstellen konnte. Im unteren Oktogon sind jene Objekte zu sehen, mit denen er seine Linienkompositionen in dreidimensionale Objekte übertrug.

„Die Linie ist das Erste und das Letzte, sowohl in der Malerei als auch generell in jeder Konstruktion“, schrieb der Künstler, der so radikal mit der Malerei experimentierte, dass er 1919 das monochrome Triptychon „Reine Farbe Rot, Reine Farbe Gelb, Reine Farbe Blau“ schuf. In der Blickachse des oberen Ausstellungsraums ist dieses zentrale Werk als Leihgabe aus dem Moskauer Puschkin-Museum zu sehen. In den 1920er-Jahren experimentierte der Künstler auch mit Plakatentwürfen, Werbegrafiken und Produktpackungen, wobei er Bild und Text auf völlig neue Weise miteinander verband. Revolutionär war auch die Ästhetik seiner Fotografie, für die er extreme Ausschnitte und Perspektiven suchte, mit dem Ziel, seinen Umgang mit Linie und Raum auch in der Realität aufzuzeigen. Doch hier zeigten sich früh die Grenzen der künstlerischen Freiheit im Sowjetreich. Schon 1927 sah sich Rodtschenko Angriffen ausgesetzt, mit seinen Fotografien würde er den westlichen Formalismus kopieren.

Damit auch die Menschen fern der Zentren Petrograd und Moskau die neue Kunst sehen konnten, wurden die neu gegründeten Provinzmuseen mit avantgardistischen Bildern versorgt. So bekam zum Beispiel die Staatliche Gemäldegalerie im fernen Astrachan Rodtschenkos „Gegenstandslose Komposition“ von 1918, die nun als Leihgabe zu sehen ist. Als Stalin Mitte der 1930er-Jahre gegen die Avantgarde mobil machte und die Doktrin vom Sozialistischen Realismus postulierte, endete Rodtschenkos Höhenflug der frühen Jahre mit einer bitteren Bruchlandung. Er selbst überlebte Stalins Schreckensregime, dem viele Künstler zum Opfer fielen. „1938 wurden die Konstruktivisten auch in unserem Museum abgehängt und in den Keller verbannt“, erzählt Marina Emelina, die stellvertretende Leiterin der Staatlichen Gemäldegalerie Astrachan, die mit einigen russischen Museumskollegen zur Ausstellungseröffnung nach Hamburg angereist ist. Erst 1968 durften die sowjetischen Museen die Werke der Avantgardisten wieder öffentlich zeigen. Zu dieser Zeit hatte sich Alexander Rodtschenko längst als einflussreicher Anreger der Neo-Avantgarde in den USA und Westeuropa erwiesen.

Rodtschenko. Eine Neue Zeit. Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2, 8.6.–15.9., tägl., 11.00– 19.00, Ausstellungskatalog: 240 Seiten, 24,80 Euro