Jetzt klingt es wieder wie zu Zeiten des großen Johann Sebastian Bach – das historische Instrument der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen wurde originalgetreu rekonstruiert. Eine aufwendige Puzzlearbeit.

Knapp zehn Stunden wird er wohl für den Fußmarsch von Lüneburg nach Hamburg gebraucht haben, in die erste wirklich große Stadt, die der 16-Jährige zu sehen bekam. Der Lüneburger Lateinschüler Johann Sebastian Bach kam 1701 mit großen Erwartungen in die Hansestadt, vor allem wollte er Johann Adam Reincken hören, einen Star unter den Organisten seiner Zeit. Da saß der Teenager aus Thüringen im Schiff der Hauptkirche St. Katharinen und staunte nicht nur über die Improvisationskunst seines musikalischen Vorbildes, sondern auch über den fast übernatürlich schönen Klang der Orgel. 19 Jahre später war der inzwischen schon recht anerkannte Bach wieder in Hamburg, um sich für die Organistenstelle an St. Jacobi zu bewerben. Er traf auch den hoch betagten Reincken und saß nun selbst auf der Orgelbank von St. Katharinen, um mehr als zwei Stunden lang zu spielen. Das war wohl ein Erlebnis der besonderen Art. „Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben, ich sehe aber, dass sie in Ihnen noch lebet“, sagte der sichtlich beeindruckte Reincken, und Bach selbst äußerte sich begeistert über das Instrument und rühmte „die Schönheit und Verschiedenheit des Klanges dieser Rohrwerke“.

Wenn Johann Sebastian Bach, der seine Bewerbung für Jacobi aus verschiedenen Gründen wieder zurückgezogen hatte, am kommenden Sonntag bei der Weihe der nach sechs Jahrzehnten wieder originalgetreu rekonstruierten Orgel in St. Katharinen dabei sein könnte, würde er dieses euphorische Urteil wohl bestätigt finden. Davon ist Andreas Fischer jedenfalls überzeugt. Der Katharinen-Organist – und Nachfolger von Johann Adam Reincken – schwärmt von dem Klang dieser Orgel, der „über alle Erwartungen hinaus einfach grandios ist“. Es sei „ein großer, voller Klang, der nicht ermüdet, der nicht schrill, dafür aber warm und ungemein farbig ist“, sagt der Mann, der die wohl spannendste und anspruchsvollste Orgel-Rekonstruktion der letzten Jahrzehnte initiiert hat.

Die Wiedergeburt dieser Orgel, die nun bald wieder in Gottesdiensten und Konzerten erklingen wird, erinnert in mehrfacher Hinsicht an die archäologische Rekonstruktion der Frauenkirche. Wie bei dem barocken Bauwerk in Dresden ging es auch bei der Rekonstruktion der Hamburger Orgel um die möglichst getreue Wiederherstellung des Originals. Bei beiden Projekten konnte man sich auf vorzügliche Dokumentationen stützten, und in beiden Fällen konnte auch originales Material wiederverwendet werden: bei der Frauenkirche historische Steine, bei der Katharinen-Orgel insgesamt 520 originale Zinnpfeifen.

Als Andreas Fischer 1994 sein Amt als Organist an der Hauptkirche St. Katharinen antrat, stand ihm ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich nicht mehr viel anfangen ließ. Die berühmte Orgel war zwar im Krieg glücklicherweise nicht komplett zerstört worden, aber sie war buchstäblich verschwunden. Wesentliche Teile hatte man vor Beginn des Bombenkriegs abgebaut und im Keller der Hauptkirche St. Nikolai ausgelagert, wo sie den Feuersturm unbeschädigt überstanden. Aber die eigentlich schon in der Nachkriegszeit geplante Rekonstruktion kam nicht zustande, denn die damit beauftragte Lübecker Firma Kemper hatte stattdessen bis 1962 einen Neubau durchgeführt, der schon bald erhebliche Mängel aufwies. Unverzeihlich war auch der Umstand, dass Kemper nur 520 der insgesamt 1016 ausgelagerten Pfeifen wiederverwendete und diese auch noch willkürlich anordnete, sodass die ursprünglichen Register verloren gingen. Und die restlichen 496 Originalpfeifen? „Die hat die damalige Firma wahrscheinlich in anderen Orgeln eingebaut oder sogar eingeschmolzen“, meint Fischer. Außerdem war die Spieltraktur schwergängig und die früher so berühmten Zungenstimmen funktionierten nicht mehr.

Daher musste man über die Zukunft der Orgel neu nachdenken. Sollte man es tatsächlich wagen, das berühmte in der Renaissance- und Barockzeit entstandene, mehrfach veränderte und dennoch in seinem Klang so homogene Instrument zu rekonstruieren? Zum Bach-Fest, das 2004 in Hamburg stattfand, diskutierten internationale Experten auf einem Symposium in St. Katharinen exakt über dieses Thema. Und das Meinungsbild war recht eindeutig: Da 520 originale Pfeifen aus immerhin 20 Registern vorhanden waren und sich für große Bereiche der Orgel genaue Unterlagen fanden, schien eine Rekonstruktion nicht nur möglich, sondern eigentlich sogar geboten. Bereits ein Jahr später konnten die Weichen gestellt werden. Mit Unterstützung zahlreicher Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Musik und Forschung wurde die „Stiftung Johann Sebastian“ gegründet, die mit dem Slogan „Eine Orgel für Bach“ den Komponisten mit knapp 300-jähriger Verspätung doch noch nach Hamburg holte.

Große Spenden unter anderem von Michael Otto und der „Zeit“-Stiftung brachten die Sache in Schwung, 2006 erhielt schließlich die renommierte niederländische Firma Flentrop den Auftrag. Und nun begann eine Puzzle-Arbeit: Die vorhandenen Originalpfeifen wurden untersucht und den ursprünglichen Registern wieder zugeordnet. Außerdem wurden entsprechend der historischen Unterlagen die übrigen Pfeifen nachgefertigt. „Da die Firma Flentrop dafür nicht nur das originale Material benutzte, sondern auch auf die historischen Fertigungsmethoden zurückgriff, sehen die Pfeifen nicht nur so aus wie die Originale, sondern klingen auch exakt so“, sagt Andreas Fischer. Dass das Wagnis gelingen würde, zeigte sich bereits am Ostersonntag 2009, als das Rückpositiv mit 13 der insgesamt 58 Register fertiggestellt war und geweiht werden konnte.

Auch für die brauchbaren Teile der Kemper-Orgel hatte sich eine glückliche Lösung gefunden. Das Instrument - mit 74 Registern und insgesamt etwa 10.000 Einzelteilen war es durchaus ein Schwergewicht - wurde abgebaut, in vier Container gepackt und in den polnischen Küstenort Jastrzebia Góra gebracht. Auf Vermittlung des polnischen Komponisten Krzysztof Penderecki hatte die dortige katholische Gemeinde die Hamburger Orgel für 25.000 Euro gekauft. Allerdings erforderte die Instandsetzung des maroden Instruments dann noch mal 350.000 Euro.

Das Hamburger Projekt war freilich deutlich teurer. Die Stiftung, die sich in vielen Aktionen und Benefizkonzerten um Spenden bemühte, musste 2,5 Millionen Euro aufbringen, eine anspruchsvolle Aufgabe. Trotzdem ging es voran, noch 2009 erhielten die Niederländer den Auftrag für die fehlenden Teile der Orgel. Um deren äußere Gestalt hatte es inzwischen eine Auseinandersetzung gegeben, denn das Hamburger Denkmalschutzamt hätte aus Respekt vor der Innenausstattung der Nachkriegszeit den Prospekt der Kempner-Orgel am liebsten erhalten. Da es aber unmöglich gewesen wäre, in dem vorhandenen Gehäuse die rekonstruierte Orgel unterzubringen, sollte es eine moderne Prospektgestaltung werden. Der dafür entwickelte Entwurf erwies sich jedoch als unbefriedigend, außerdem hätte ein moderner Prospekt in Kontrast zum historischen Klangbild gestanden. So konnte schließlich eine Rekonstruktion des auf Zeichnungen und Fotografien überlieferten Renaissance-/Barockprospekts doch noch durchgesetzt werden, auch wenn aus Kostengründen noch nicht alle Verzierungen und Details ausgeführt werden konnten.

Trotzdem bildet der von musizierenden Engeln bekrönte Prospekt nun wieder den prächtigen Rahmen für eine großartige Orgel, die Jahrzehnte lang verstummt und fast schon verloren war, nun aber wieder so wunderbar klingt, wie sie schon Johann Sebastian Bach Anfang des 18. Jahrhunderts zum Klingen gebracht hat. Bachs Anstellung an der benachbarten Hauptkirche St. Jacobi mit ihrer gleichfalls großartigen Arp-Schnitger-Orgel war nicht zuletzt auch am Hamburger Krämergeist gescheitert. Dass der Weltmeister der Kirchenmusik nun posthum im Hamburg seine eigene Orgel bekommt, ist eine späte Wiedergutmachung - und außerdem eine hübsche Pointe der Kulturgeschichte.