Straßenmusik de luxe: Der Cellist Alban Gerhardt spielte am helllichten Vormittag am Dammtor zwei Solosuiten von Johann Sebastian Bach

Hamburg. Wer weiß, was die Bahn bewogen hat, dass sie den renommierten Cellisten Alban Gerhardt, der überall auf der Welt konzertiert, an zwei Tagen im Mai ohne Gage auf sechs deutschen Großstadtbahnhöfen von Hamburg bis Frankfurt die sechs Bach-Suiten für Violoncello solo spielen lässt. Sonst kärchert sie doch mit Klassik die Stricher und Junkies und all die im Leben Gestrandeten weg, die auf den Hauptbahnhof kommen, um zu bleiben.

Es muss was mit Marketing zu tun haben. Auf den wenige Minuten vor dem Konzert aufgehängten Plakaten „Bach im Bahnhof“ steht unten der Slogan: „Ihr Einkaufsbahnhof. Gute Geschäfte. Mehr erleben.“

Dienstag traf Alban Gerhardt um 10.06 Uhr mit dem ICE aus Berlin am Dammtorbahnhof ein. Am Ausgang zum Dag-Hammerskjöld-Platz stellte er seinen mit vielen abgestoßenen Stickern beklebten weißen Cellokasten ab und baute ein schickes, schlankes Bose-Lautsprechertürmchen auf. Doch die mitgebrachte Verlängerungsschnur war zu kurz. Nachdem die Blumenhändler aus dem Geschäft nebenan ein paar Mehrfachleisten zusammengesteckt hatten, hatte der Musiker auch Strom. Die automatische Tür zum Platz hatte die Werbereferentin der Bahn verschließen lassen, auch hatte sie dem Cellisten einen mintgrün gepolsterten Stuhl hingestellt. Die Bodenreinigungsmaschine war über die Fliesen gefahren, hatte verschütteten Kaffee weggewischt und eine interessante feuchte Spur hinterlassen. Aus dem Durchgang, den die Städter und die Reisenden zu durcheilen pflegen, vorbei an den schönen, in abgerundete Holzkästen eingelassenen Vitrinen, vorbei an den Mülleimern für Verpackung und Restmüll (links) und Glas und Papier (rechts), war unbemerkt ein heiliger Raum entstanden. Eine Konzertbühne auf Zeit.

Gerhardt begann zu spielen, die erste Suite in G-Dur. Zum verstärkten Summton seines Cellos traten der seidige Bass der vorüberziehenden Bodenreinigungsmaschine und der stoische Diskant des Croissant-Backofens von Le Crobag, der der Verkäuferin rhythmisch piepend die ausreichende Bräune seines Inhalts kundtat. Zwölf Kinder in buntem Regenzeug lauschten still der Musik, die Köpfe unter ihren Kapuzen. Der Macht der Gewohnheit folgend, strebten manche Bahnhofsbenutzer unverdrossen auf die verschlossene Glastür zu. Weil sie nicht aufging, liefen sie hinter dem Musiker vorbei und zurück, wie ertappt. Ein prima Setting für die versteckte Kamera. Zugleich hatte der Raum etwas verschwiegen Sakrales. Jeder, der sich hineinbegab, wurde zum Akteur einer Performance des Zufalls.

Gerhardt spielte sehr schön, auch die sechste Suite in E-Dur, einer Tonart, die man sich auf dem Cello viel mehr erkämpfen muss als G-Dur. Vor allem Frauen nahmen sich Zeit zum Zuhören. Wiederholt rutschte dem Musiker auf dem feuchten Boden der Stachelhalter weg, dann hob er das Cello hoch und spielte ohne Bodenkontakt. Es gab sekundenkurze Momente von Magie, in denen alle Anwesenden gemeinsam und jeder für sich wie aus der Zeit herausgehoben schienen, verbunden mit etwas Höherem. Aber deswegen seinen Zug verpasst hat wohl niemand.