„Von morgens bis mitternachts“ heißt ein neues Buch, das eine Zeitreise durch Arbeit und Kunst am Thalia Theater unternimmt

Hamburg. 170 Jahre Thalia Theater sind nicht unbedingt ein rundes Jubiläum. Doch man kann etwas Attraktives daraus machen. Denn man sollte sich nie einen Anlass entgehen lassen, wenn es etwas zu feiern gibt. Christine Ratka, die seit 25 Jahren am Thalia Theater arbeitet – unter anderem in der Dramaturgie – hat ein sehr schönes Buch zusammengestellt, eine Zeitreise durch die Arbeit und Kunst des Theaters. „Das Thalia Theater – Von morgens bis mitternachts“ schildert nicht nur chronologisch, was wer wie dort inszeniert, gespielt, gesehen hat. Sondern es stellt auch die vielen handwerklichen Abteilungen vor, die daran mitarbeiten, damit es am Abend auf der Bühne leuchten und leben kann. Und es zeigt Fotos von so vielen Inszenierungen, dass manch ein Betrachter wohl gern ein „Ach, guck mal“ ausrufen möchte.

Ein Foto vom Teeraum (1935) sieht heute so nostalgisch aus, als sei man mitten hineingeplatzt in einen englischen „Magic Afternoon“. Eine Maskenbildnerin erzählt: „Wir knüpfen Perücken, Bärte und alle Zubehörteile dazu, wir arbeiten Glatzen, wir stellen Masken und Körperteile her“ und konkret ergänzt sie: „Das Riesentatoo von Jörg Pohl in ‚Dantons Tod‘, das wird mit Gummimilch und Tüll gemacht.“ Theater, das ist auch die Kunst vieler, damit einige spielen können. Im Theater gibt es noch meisterhaftes Handwerk, das draußen, im Leben, fast schon ausgestorben ist. Von der Arbeit der Techniker und Beleuchter, Schreiner und Bühnenmaler, Kostümschneider, Lichtmeister und Theaterschreiner erzählt dieses Buch auch. Von den Menschen, die man nicht sieht und die auch nur ein Ziel haben: eine gelungene Vorstellung.

„Jeder Zuschauer, selbst wenn er sich nur ein paar Mal im Leben in einen Theatersaal verirrt hat, kapiert, dass jedes Theater ein großer, von vielen Menschen bedienter Zauberapparat ist“, schreibt Wolfgang Höbel im Vorwort. Und Intendant Joachim Lux weiß: „Ohne das künstlerische Ethos der vielen handwerklichen Berufe ginge hier gar nichts. Sie gehören zur Kunst wie die Kunst selbst.“

Natürlich dürfen auch all die großen Namen nicht fehlen, mit denen man das Thalia Theater identifiziert, Boy Gobert, Ingrid Andree und Susanne Lothar, Jürgen Flimm und Bob Wilson, Willy, Peter und Michael Maertens, Hans-Christian und Sebastian Rudolph, Fritzi Haberlandt, Annette Paulmann, Maren Eggert, Hans Kremer, um nur ganz wenige zu nennen. Wenn man ins Buch schaut, hört man gar nicht mehr auf, an all die tollen Aufführungen, an all die tollen Schauspieler zu denken, die hier seit Jahrzehnten arbeiten.

Man muss nur anfangen zu blättern, dann stößt man auf ein Foto von Inge Meysel, über die es 1962 in einer Kritik des Hamburger Abendblatts hieß: „Die Meysel spielt virtuos auf der Klaviatur der Gefühle. Sie spielt aber auch alles an die Wand, was da kreucht und fleucht.“ Aber es gibt auch Zeichnungen von Kostümbildentwürfen oder dem Maler-Atelier des alten Thalia Theaters von 1907. In der Kostümabteilung kann man entdecken, dass hier wirklich Haute Couture geschneidert wird, Einzelstücke in Handarbeit. Uwe Barkhahn, technischer Direktor, erzählt, wie man eine Wand auf die Bühne bekommen hat: „Zehn Leute kamen, zwei haben mit dem Fuß vorgetreten, damit die Wand nicht umfällt, und dann hat der Rest sie aufgerichtet.“ Heute wird der technische Ablauf von Computern gesteuert, und Maschinen erledigen vieles. Früher, so der langjährige Bühnenmeister Siegfried Sell, wurde, „ein Gewicht von zwei Zentnern in die Zugstange gehängt, und das musste mit Gewichten im Schnürboden ausgekontert werden. Pi mal Daumen wurde ein neues Gewicht eingehängt.“

Natürlich bekommt man auch die Geschichte des Thalia Theaters im Buch frei Haus geliefert. Dass Chérie Maurice 1843 das Thalia Theater gründete, nach der Muse der Komödie taufte und keine Dramen gespielt werden durften, sondern nur leichte Kunst. Dass vor 100 Jahren der Neubau am heutigen Platz errichtet wurde, weil das alte Gebäude technisch nicht mehr genügte und weil man mehr Platz für Zuschauer brauchte. Unvorstellbar klingt das heute.

Viele Inszenierungen wurden in alle Welt eingeladen. Und zum Theatertreffen.

Und aus jeder Intendantenzeit seit Bernhard Pollini (1893) wird im Buch etwas Typisches erzählt. Bei Jürgen Flimm (1985–2000) waren Regisseure mit starker Handschrift gefragt. Und ein selbstbewusstes, vielseitiges Ensemble. Erinnern Sie sich an Goschs „Ödipus“, Wilsons „Black Rider“, „Alice“ oder „Die Hamletmaschine“, an Flimms „Platonow“ oder „Das weite Land“? Wenn ja, kann man fast ein wenig wehmütig werden. Bei Ulrich Khuon kamen neue Regisseure wie Andreas Kriegenburg, Stephan Kimmig, Michael Thalheimer und Schauspieler wie Hans Löw, Peter Jordan, Susanne Wolff dazu. Und wieder, wie schon in den Jahren davor, wurden viele Inszenierungen zu Gastspielen in aller Welt und zum Theatertreffen eingeladen.

Seit Joachim Lux das Haus leitet (2009), das nun schon lange und immer noch zu den wichtigsten zwei, drei deutschen Bühnen gehört, blieben Schauspieler wie Victoria Trauttmansdorff, Regisseure wie Nicolas Stemann dem Haus erhalten. Und natürlich kamen auch viele neue Künstler hinzu. Patrycia Ziolkowska, Jens Harzer, Jörg Pohl, Mirco Kreibich, Karin Neuhäuser, um nur wenige zu nennen, haben längst die Hamburger Zuschauer erobert. Was die Kunst betrifft, so schaut man aber deutschlandweit aufs Thalia, hier entsteht Wegweisendes, hier wird Neues entdeckt und das alte Niveau erhalten. Kein Wunder, dass die Besucherzahlen von Jahr zu Jahr steigen.

Das Besondere am Thalia, das hat sich über die Jahrzehnte, fast könnte man sagen über die Jahrhunderte, erhalten. „Ein kluger, ein gewitzter, heiterer Geist weht durch dieses Haus“, heißt es auf den ersten Seiten des Buches. Das spüren die Zuschauer. Für manch einen, der hier arbeitet, herrscht im Thalia der Geist einer Familie.

Christine Ratka: „Das Thalia Theater – von morgens bis mitternachts“, 160 Seiten, 140 Abb., Verlag Dölling und Galitz, 14,90 Euro

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