„Im Palast der Erinnerung“ von Gilles Rozier beschwört die Aura der polnisch-jiddischen Dichterszene

Wo liegt das wahre Zuhause? Wann spürt man dieses innere Gefühl, endlich angekommen zu sein? Wahrscheinlich nicht allein beim Anblick eines Straßenzugs oder einer Landschaft. Sondern es erwacht auch in den Feinheiten einer Sprache, eines Dialekts. „Ich hätte gern sechs Monate in dem Land verbracht, wo man Jiddisch sprach“, schreibt der Icherzähler in Gilles Roziers Buch „Im Palast der Erinnerung.“ „Aber dieses Land gab es nicht. Es war das Land meiner Kindheit…“

Mit rührender Liebe und Akribie hat sich der in Paris lebende Autor Gilles Rozier auf die Spuren der jiddischen Literatur begeben und dieses wehmutsschöne Buch als Tatsachenroman über die untergegangene polnisch-jiddische Literatenszene geschrieben. Viel von seiner eigenen Biografie ist hier hineingeflossen, denn Rozier hat 1997 in jiddischer Literatur promoviert, seit 1994 leitet er das „Parizer Yidish-Zenter“, das mit seiner Bibliothèque Medem die größte nicht universitäre Sammlung jiddischer Werke in Europa beheimatet.

Das Buch, in schönster Gestaltung der Anderen Bibliothek erschienen, flößt den vergessenen Dichtern Uri-Zwi Grinberg, Perez Markisch und Melech Ravitch neues Leben ein: „Weh euch, ihr Schultern“, brüllt hier der revolutionäre Lyriker Markisch sein Pogrom-Gedicht. „Weh euch, ihr wiedervernähten Schädel, oh Knochen-Katafalke für das Hirn aus schäumendem blutigem Tau, aus siedendem Wahnsinn – hin zu den ewigen Hochzeiten, zu den Begräbnis-tänzen.“

Von den drei Dichtern jiddischer Sprache taucht im Buch ein vergilbtes Foto auf. Gilles Rozier hat sich auf die beschwerliche, Jahre verschlingende Suche gemacht, den Spuren dieser in den 20er-Jahren im Warschauer Literatenverein stürmisch gefeierten Poeten zu folgen. Und er legt in uns die Sehnsucht nach Verlangsamung, nach Fußwegen und geduldigem Zuhören: „Wenn Sie ihre Sprache viele Jahre lang gelernt und sich bemüht haben, einige noch leuchtende Funken dieser verlöschenden Sonne aufzufangen, werden Sie ihre Werke lesen und Ihnen wird klar werden, was für Riesen sie waren.“

Kreuz und quer durch Europa und darüber hinaus laufen diese Spuren. Rozier rekonstruiert ihre Lebenswege bis in die polnischen Dörfer, wo Juden zeitweilig unbehelligt leben durften, aber auch entlang der entsetzlichen Pogrome, die wie aus heiterem Himmel zuschlugen, das Trauma in den Seelen der Übrigen erneuernd. So ist dieses Buch nicht nur von der Liebe zur Literatur getrieben, sondern von einem tiefen Humanismus, den nicht mal die Judenvernichtung ausmerzen konnte.

Gilles Rozier: „Im Palast der Erinnerung“. Die Andere Bibliothek. 450 Seiten, 38 Euro