Das gab es in „Santa Fu“ noch nie: Acht junge Tänzer vom Bundesjugendballett von John Neumeier traten mit drei ehemaligen inhaftierten Rappern im Gefängnis auf

Sie haben einen Auftrag. Sie wollen den Tanz zu den Menschen bringen. Vier junge Frauen und vier junge Männer aus Brasilien, Japan und Kanada, aus der Schweiz, den Niederlanden und Deutschland. Sie haben sich aufgemacht, um etwas ganz Neues zu wagen. Sie warten nicht auf die Zuschauer. Sie besuchen sie einfach. Sie tanzen in Schwimmbädern, Schulen und Seniorenheimen. In Diskotheken, Fabrikhallen und unter freiem Himmel. In Hamburg, in Berlin und in Shanghai. Ihre Bühne ist da, wo Tanz ist, sagen sie.

Sie tanzen zu Beethoven und zu Soul-Musik. Sie tanzen Klassiker und eigene Choreografien. Sie kommen aus aller Welt und haben eine gemeinsame Sprache – die Bewegung.

Sie machen vieles ganz anders. Das war der Plan von John Neumeier, als er das Bundesjugendballett im September 2011 gegründet hat. Hier sitzt das Orchester nicht im Graben, sondern mitten auf der Bühne. Damit wollen sie allen zeigen: Tanz, Musik und Gesang sind gleichwertige Künste. Und wenn sie zusammenkommen oder gar heftig aufeinanderprallen, entsteht etwas ziemlich Einzigartiges.

„Wir merken, wie groß das Interesse für Tanz auch bei Künstlern aus anderen Sparten ist – und was für ein großes Potenzial in gemeinsamen Projekten liegt“, sagt Lukas Onken, organisatorischer Leiter des Bundesjugendballetts. Und es sei schon immer der Wunsch von John Neumeier gewesen, dass seine jungen Tänzer auch einmal im Gefängnis auftreten.

Nun stehen sie vor der Bühne nebeneinander aufgereiht und fassen sich an den Händen. Die jungen Frauen mit kurzen Röcken oder durchsichtigen Gewändern, die Männer in engen Shorts und mit freiem Oberkörper. 80 Häftlinge sitzen ihnen in sechs Stuhlreihen stumm gegenüber. „Hallo, ich heiße Yukino Takaura und komme aus Japan.“ Lauter Beifall. „Hallo, ich heiße Winnie Dias und komme aus Brasilien.“ Jeder Einzelne wird mit Applaus empfangen. Willkommen im Knast.

In der 1906 erbauten Kirche in Haus 2 im berühmtesten Gefängnis Deutschlands finden am Sonntag Gottesdienste statt. Mal evangelisch, mal katholisch. An den beiden Stirnseiten recken sich mächtige Emporen aus Holz in die Höhe. Dort oben betet einmal in der Woche der Imam mit den muslimischen Gefangenen. In dem großen Saal mit seinen alten, hohen Kirchenfenstern empfangen die Häftlinge donnerstags und am Wochenende die Besuche von Familienangehörigen und Freunden. Hinten an einem Tresen bietet das Küchenteam Süßigkeiten und Getränke zum Verkauf an.

Der Kirchenbau stammt aus einer Zeit, als in der Gesellschaft der Gedanke vorherrschte, die Straftäter im Gefängnis zu frommen Menschen zu machen. In „Santa Fu“ kommen von den 250 Gefangenen knapp 50 regelmäßig zum Gottesdienst. Eine solche Quote schafft keine andere Gemeinde in Hamburg. Heute ist die Kirche Auftrittsort für durchtrainierte Männer und federleichte Schönheiten.

Winnie tanzt, seitdem sie fünf Jahre alt ist. Sie sagt, es sei ihr wichtig, eine kluge Tänzerin zu sein. Die weiß, was sie tanzt, und sich selbst gut kennt. Was die zierliche junge Frau mit den großen braunen Augen und dem strahlenden Lächeln nicht kennt, ist das heutige Publikum. „Was denken die, wenn wir in Tüll und kurzen Röckchen auftreten?“, fragt sie sich. Können die mit unserer Kunstform überhaupt etwas anfangen? „Werden sie reden oder lachen, während wir tanzen?“ Oder ruhig und konzentriert zuschauen? „Die meisten haben bestimmt noch nie in ihrem Leben eine Ballett-Aufführung gesehen.“

Winnie verbindet ihr schönstes Tanzerlebnis mit der Stadt Karlsruhe, als sie dort in „Schwanensee“ auf der Bühne stand. Sie ist vor 22 Jahren in Belo Horizonte geboren worden. Es gibt einige Männer im Publikum, die nicht viel später nach „Santa Fu“ gekommen und seitdem hier drinnen sind. Man kann sehr wohl behaupten, dass hier heute zwei Welten aufeinanderprallen.

Dany ist, wenn man so will, gerade unterwegs von der einen in die andere Welt. Das Leben hinter Gittern hat er seit Kurzem hinter sich. Zweieinhalb Jahre hat der 32-Jährige in der JVA Rottenburg gesessen. Warum? „Egal“, sagt er. Jetzt ist der untersetzte Glatzkopf zurückgekehrt in den Knast. Aber diesmal als Künstler. Er erzählt, dass er schon als Kind Gedichte geschrieben hat. Gerade hat ihm seine Mutter die gesammelten Kinderreime gezeigt, die er früher zu Papier gebracht hat.

Dany nennt sich jetzt OMP. Er trägt ein weißes T-Shirt, eine große Kette und ein kleines Kreuz um den Hals, eine schwarze Trainingshose mit weißen Streifen und helle Turnschuhe. Mit ihm würde man im Fernsehen idealerweise die Rolle eines Rappers besetzen. Ist er nervös vor dem Auftritt? „Du kannst nicht für 80 Leute kochen, und allen schmeckt es“, sagt er, „aber einer mag es garantiert – und den lernst du vielleicht nie kennen.“ Außerdem kennt er ja quasi sein Publikum, auch wenn er noch nie hier war. „Die verstehen mich, ich verstehe die – und ich bin kein Lügner.“

Ist es wichtig, dass die Rapper dabei sind? „Ja“, sagt Winnie, „sie sind wichtig für uns, weil sich das Publikum mit ihnen besser identifizieren kann.“ Das würde helfen, zwei Welten vielleicht etwas näher zusammenrücken zu lassen. „Was geht ab, Fuhlsbüttel?“, ruft Dany ins Mikro. Dann ertönt klassische Klaviermusik. Und als die harten Beats einsetzen, reimt er mit rauer Stimme: „Ein Leben in zwei Welten/wie sie unterschiedlicher niemals sein können/es entsteht ein Projekt/Rap auf Ballett/Pas de deux – ein Duett/ein neues Kunstwerk entsteht.“ Im Hintergrund bewegen sich die Tänzer, als hätten sie schon immer Rap-Songs in Bewegung umgesetzt. „Die Beats passen gut zum Ballett“, sagt Winnie. Sie bewegt sich wie eine Puppe. Dany dreht sie im Kreis: „Ich lass die Puppen tanzen, yeah.“

Als sie das erste Mal mit den drei Rappern in Berührung kamen, saßen die noch in der Justizvollzugsanstalt Rottenburg. Die Tänzer sagen, dass sie damals ein mulmiges Gefühl hatten. Sie wussten ja, dass unter den harten Jungs auch Mörder und Vergewaltiger waren. „Wir wissen nicht genau, was die drei Rapper getan haben, und es ist auch besser, dass wir es nicht wissen“, haben sie sich anfangs gesagt. „Inzwischen habe ich ein anderes Bild von Strafgefangenen“, sagt Patrick Eberts.

Der 21 Jahre alte Tänzer aus Bamberg bekam irgendwann die deutschen Texte von den Rappern und hat sich dazu Choreografien ausgedacht. „Ich fand, dass in den Songs sehr viel von Reue die Rede war, und habe versucht, dieses Gefühl in Bewegungen umzusetzen.“ Patrick möchte mit seinem Tanz die Menschen zum Nachdenken anregen. Ohne Tanz und Bewegung könnte er nicht leben, sagt er. Das käme dem Suchtverhalten schon sehr nahe. Allerdings sei das eine Sucht, die nicht schädlich ist. Menschen im Knast waren für ihn bisher Verbrecher, die anderen sehr wehgetan oder mit Drogen gedealt haben. „Leute, die sich nicht ändern wollten.“

Von den drei Rappern hat er zu Marcel das beste Verhältnis. „Wir haben uns lange unterhalten und sind jetzt ziemlich gute Kumpels.“ Marcel nennt sich jetzt Chippsy, so steht es auch tätowiert auf seinem Arm. Er hat den Song „Mein Tagebuch“ geschrieben. Er schreibt sich alles von der Seele. Den Frust, die Enttäuschung. Das Gefühl des Verlassenseins hinter Gittern. Wenn man am Fenster steht und einfach nur noch schreien möchte. „Gangster haben auch Gefühle, doch sie zeigen sie nicht“, singt er. Er zeigt sie. „Im Knast müssen viele zur Psychotherapie. Ich setze mich hin mit meinem Block und meinem Stift, und der übernimmt das dann für mich.“ Patrick kennt jetzt eine Lebensgeschichte mehr und findet, dass Gefangene auch nur Menschen wie alle anderen sind, die versuchen, irgendwie über die Runden zu kommen. Er sagt, wenn nur ein Zuschauer durch das Projekt auf den Gedanken kommt, sein Leben zu verändern, hat es seinen Zweck erfüllt.

Die Hauptaufgabe des Vollzugs, so steht es im Gesetzbuch, ist die Wiedereingliederung des Täters in die Gesellschaft. Strafe sei niemals Selbstzweck, sondern habe ihre einzige Legitimation in der Zweckhaftigkeit für die Zukunft.

Hardy Baiersdorf ist seit zwei Jahren der Freizeitkoordinator im Gefängnis. „Es ist Teil unseres gesetzlichen Auftrages, dafür zu sorgen, dass der Gefangene nach der Entlassung ein straffreies Leben in sozialer Verantwortung führen kann“, sagt er. Und Kultur im Knast sei einer von mehreren Bausteinen, um dieses Ziel zu erreichen. Es gibt Gesprächsgruppen in „Santa Fu“, die „Regenbogen“ oder „Wendepunkt“ heißen und in denen über christlich-religiöse Themen gesprochen wird. Es gibt Gruppen für Yoga und Tischtennis, Literatur und Musik. Es gibt einen Chor und die Band Jailbird, bei der es manchmal schwierig mit der Besetzung sei, „wenn zum Beispiel der Schlagzeuger entlassen wird“, sagt Baiersdorf. Und es gibt eine Fußballmannschaft, die nur Heimspiele austrägt. An jedem letzten Freitag im Monat kommen Künstler von außen in die Anstalt. Stefan Gwildis war da, Lotto King Karl auch. Und der 25 Frauen starke DamenLikörChor.

„Hier ist noch nie jemand ausgebuht worden“, erzählen die Justizbeamten, die das „Rap auf Ballett“-Konzert verfolgen. Die Gefangenen könnten sehr wohl Leistungen anerkennen. Und sie würden honorieren, dass überhaupt jemand zu ihnen kommt und für eine kurze Zeit für Abwechslung in ihrem geschlossenen Alltag sorgt. Dass es Menschen gibt, die den bösen Jungs mit Freude etwas vorspielen.

Nach der Lehre des Kirchenvaters Augustinus gibt es das Böse an sich gar nicht. Das Böse sei nur Mangel am Guten, meinte der Philosoph. Ein Mangel an Zuwendung und Aufmerksamkeit und Liebe.

„Die Suche ist beendet, wir haben uns gefunden, lasst uns die Hände reichen und unsere Kunst verbinden“, singt Dany am Schluss des Kunstexperiments. Die Beats verstummen. Die Tänzer verbeugen sich. Sie sind außer Atem und strahlen. „Ich muss das jetzt mal sagen, ich fühle mich wohl hier, obwohl es Scheiße ist, im Knast zu sein“, ruft Dany ins Mikro. Die Zuschauer sind längst aufgestanden. Langer, lauter Beifall. So fühlen sich vielleicht kurze gemeinsame Glücksmomente an.

Marcel hat gesagt, wenn das Publikum begeistert ist, erfülle ihn das mit Stolz. Das sei so, als wenn man die ganze Zeit im Keller gelebt hat, und irgendwann geht die Tür nach oben wieder auf.