In der Hamburger O2 World präsentierte sich Joe Cocker fantastisch in Form – und mindestens so intensiv wie 1969 in Woodstock.

Hamburg. Joe Cocker schwitzt. Schon nach dem ersten Song entledigt er sich des dunklen Jacketts und öffnet den obersten Knopf seines schwarzen Hemdes. Er braucht Luft. Mit „I Come In Peace“ hat er sein Konzert in der O2 World begonnen, es klingt wie ein Nachtrag zum Kirchentag und ist eine schnelle Aufwärmnummer vor dem ersten Klassiker. Auf die Leinwand im Bühnenhintergrund laufen Batikmuster ineinander, in den 60er- und 70er-Jahren waren das beliebte T-Shirt-Aufdrucke. Der mächtige Afro der Bassistin Oneida James-Rebecca passt ebenfalls in die Zeitreise rückwärts. Cocker singt „Feelin’ Alright“. Seine Finger bewegt er dazu gewohnt ungelenk und arhythmisch. Das Publikum ist hingerissen.

Konzerte des 68-Jährigen sind wie das Durchblättern eines alten Fotoalbums. Erinnerungen kommen hoch. An Engtanz-Partys mit „Come Together“ als Kuschelvorlage oder Mixtapes, auf denen „You Are So Beautiful“ als Botschaft an ein verehrtes Mädchen versteckt war. Hinter dem großen Mischpult in der Mitte der Arena tanzen ein paar Frauen um die 50 selbstvergessen zu diesen Songs. Vielleicht erinnern sie sich an ihre erste große Liebe. Der Joe Cocker von damals wird hinter ihren geschlossenen Augen kaum aufleuchten, denn der zählte nicht zu den Sexsymbolen. Teenager träumten von Jim Morrison, dem dunklen Engel in seiner hautengen Lederhose, vom sanften Paul McCartney und dem schnoddrig-rebellischen Mick Jagger. Joe Cocker zählte nicht zu den Poster-Boys, er wurde und wird für seine Stimme und seine Interpretationskunst geliebt.

Er öffnet den nächsten Knopf an seinem Hemd, der Kragen sitzt jetzt etwas derangiert, aber für Sexappeal sind ohnehin seine grazile Bassistin und die beiden Backgroundsängerinnen verantwortlich. „The Letter“ steht auf dem Programm. Diesen Titel und die anderen Coverversionen macht Cocker zu seinen Songs, wenn er sie aus dem Bauch und aus dem Herzen heraus singt. Er weiß, was es heißt, betrogen worden zu sein oder einen Hangover zu haben. Dieses Gefühl bricht in einem lang gezogenen Schrei aus ihm heraus. Das unendlich gedehnte „Aaaaaaaaaaa“ ist zu einem Markenzeichen geworden und wird noch öfter an diesem Abend zu hören sein – frenetisch beklatscht von den etwa 7500 Fans in der Arena. Dieser Urschrei gehört zu den Klischees, von denen Cockers Konzerte nicht frei sind. Aber wie auch nach einer länger als 40 Jahre dauernden Karriere? Ein reines Best-of-Programm spult er trotzdem nicht herunter. Sieben der insgesamt 19 Songs stammen von seinem aktuellen Album „Fire It Up“. Das sumpfige „Eye On The Prize“ mit seinen Referenzen an den Mississippi-Blues könnte zum Klassiker werden.

Ein Aufschrei geht durchs Publikum, als die ersten Töne von „Up Where We Belong“ ertönen. 1983 erhielt Cocker für das Duett mit Jennifer Warnes einen Oscar, in Hamburg singt er es mit der Afroamerikanerin Nikki Tillman, die seit einigen Jahren zu seiner Band gehört. Songs wie dieser zählen selbst hierzulande zum allgemeinen Kulturgut. Jeder kennt es, jeder liebt es, jeder kann es mitsingen – zumindest den Refrain. Nirgendwo auf der Welt ist Joe Cocker populärer als in Deutschland. Hier erreichen seine Alben regelmäßig höchste Chartsplatzierungen, „Hard Knocks“ schaffte vor drei Jahren Platz 1, „Fire It Up“ kletterte auf Platz 6. Entsprechend oft bereist Cocker Deutschland zu langen Tourneen. In seiner englischen Heimat dagegen nimmt kaum noch jemand Notiz von dem ehemaligen Klempner aus der Arbeiterstadt Sheffield.

Auf Cockers Hemd zeichnen sich Schweißflecken ab. Er arbeitet hart und konzentriert. Doch seine von Whisky und Zigaretten früh aufgeraute Stimme ist immer noch kräftig, mit Inbrunst singt er „I’ll Be Your Doctor“. Nach einer Dreiviertelstunde reduziert er Tempo und Dynamik ein wenig. Zu „You Don’t Need A Million Dollar“, „You Are So Beautiful“ und „Younger“ nehmen seine Musiker akustische Instrumente in die Hand, musiziert wird im Sitzen. „Fire It Up“ ist anschließend Stichwort und Auftakt des langen und grandiosen Finales mit Songs, die Cocker zu Gassenhauern gemacht hat wie Randy Newmans „You Can Leave Your Hat On“ oder Ray Charles’ „Unchain My Heart“.

Fehlt noch „With A Little Help From My Friends“, jener Beatles-Song, der ihn berühmt gemacht hat, als er die Nummer von spastisch wirkenden Zuckungen begleitet in Woodstock gesungen hat. Als sein Organist Francis Jackson das Intro dazu mit ein paar Bach-Variationen spielt, steht Cocker im Dunkeln zwischen Flügel und Schlagzeug. Erst als Gene Black das berühmte Gitarrenriff angerissen hat, kommt er nach vorn ans Mikro. Dieses Mal erfüllt er das Klischee des wild mit den Armen rudernden Sängers nicht, statt Luftgitarre begnügt er sich mit etwas Luftorgel. Die Intensität von damals ist dennoch die gleiche. Vielleicht klingt Cocker heute sogar besser als 1969. Aus dem Alkoholiker ist ein Teetrinker geworden. Einer, der verlässlich ein Programm abliefert und Emotionen weckt. Genau das erwarten seine Fans von ihm. Das Ende des großartigen Konzerts ist so unglamourös wie der Anfang. Zwei kurze Sätze sagt er: „Hamburg, we love you. Keep rocking.“

Joe Cocker im Stadtpark 11.8., Karten 58,90