John von Düffels „Schimmelreiter“-Version feiert gelungene Premiere am Theater Lüneburg. Der starke Storm-Stoff ist ein Erfolgsdrama im Norden

Lüneburg. Das Drama „Der Schimmelreiter“ von John von Düffel nach Theodor Storm setzt seine Vielseitigkeitsprüfung über norddeutsche Bühnen aktuell im Theater Lüneburg fort und besteht auch diese Prüfung sehr gut. Von Düffels Kompaktfassung, in der die Figuren zugleich als Erzähler mit knappen Beschreibungen die eigenen Handlungen kommentieren, um anschließend umstandslos weiterzuspielen, sorgte jetzt in der Regie von Martin Pfaff für beschleunigte Dramatik mit bedrückendem Ausgang.

Für viele Menschen, die hinter einem Deich leben, so lehrt uns Storm, wird dieser im Laufe der Zeit zu ihrem stark einschränkenden Horizont. Wer macht sich schon die Mühe, immer wieder die Deichkrone zu erklimmen, dort oben zu stehen und aufs offene Meer zu blicken. Deichgraf Hauke Haien, in Lüneburg spielt ihn Fabian Kloiber über das Ensemble herausragend, ist so einer. Dann ist er auch noch ein aufbrausender, ungeduldiger Visionär. Folgerichtig hat er in der traditionellen Dorfgemeinschaft mehr Feind als Freund. Aber nicht das wird ihm schließlich zum Verhängnis. Der von ihm konstruierte Deich hält noch 100 Jahre, während der alte Deich bei der nächsten Sturmflut bricht. Beim Versuch, Frau und Kind zu retten, geht er mit den beiden in den Fluten unter.

So geht wahre Tragik im stormschen Weltliteraturformat: Der faustisch-genialisch getriebene Neuerer der Zivilisation wird im Kampf mit den Elementen, im ewigen Krieg mit der Natur, zum Märtyrer. Nicht mit dieser Szene aber lässt Martin Pfaff das Spiel in Lüneburg enden, sondern mit dem Chor der Dörfler, die in Sicherheit sitzend dem Ertrinkenden wieder und wieder „Wir ertrinken“ nachrufen.

Damit nimmt Pfaff zum bitteren Ende noch einmal die Technik des chorischen Sprechens auf, die schon am Beginn seiner Inszenierung steht. Der Chor der Dorfbewohner beschreibt das Phänomen des Schimmelreiters als Geisterreiter. Es folgt die genial auf zwei Sätze eingedampfte Rahmenhandlung „Nur eine Geschichte…“ – „Eine Geistergeschichte!“. Mehr braucht das Theater nicht. Das atmosphärisch dichte Bühnenbild von Barbara Bloch erzählt in drei senkrechten, plankenbesetzten, algenbewachsenen, fischernetzbewehrten Deichwänden die ganze Welt. Die hintere Kulissenwand wird schließlich, abgesenkt, zum neuen Deich. Ab und zu wabert ein Nebel drüber hinweg, fertig ist die Küste.

In diesem einen starken Bild entfaltet Regisseur Pfaff die Novelle mit regelmäßig wiederkehrenden Gestaltungselementen. Der Einstieg in einen neuen Erzählabschnitt erfolgt jeweils mittels einer kurzen Pantomime. So sieht das Publikum, wie Hauke von seinem Vater (solide: Matthias Herrmann) das Messen lernt, indem er ihm nachstapft, in seine Fußstapfen tritt, bis er ihn schließlich mit der Zeichnung von Luftschlössern beziehungsweise Luftdeichen per Fingerzeig überflügelt. So erfahren die Zuschauer gleichzeitig mit Hauke auch von seiner Elke (engagiert: Sigrid Meßner), der es im passenden Moment die Sprache verschlagen hat, dass sie schwanger ist.

Am Ende warnt allerdings eine Gestalt mit Südwester in einer Art Tai-Chi-Tanz vor dem dräuenden Untergang – vermutlich der Figur des Arbeiters bei Storm nachempfunden, die dem Deichgrafen Hauke Haien den letzten Wink seines Lebens gibt. In Elementen wie diesem und einigen Ausstattungsdetails wie einem Gesichtstuch, das des Deichgrafen Tochter Wienke in eine Art Tuareg verwandelt, offenbaren sich die Grenzen der Inszenierung. Dabei spielt Claudia Grottke als Wienke und auch in der Rolle des Schimmels sportlichsehenswert.

Seine eigenen guten Inszenierungsideen – wie das Bild sich verängstigt auf einem Fleck zusammenklumpender, aneinanderschmiegender Einwohner des Dorfes – oder die Erkundung der Möglichkeiten des Deiches als Kletterwand, reitet Pfaff durch häufige Wiederholung und eintönige Rhythmisierung letztlich fast zu Tode.

Doch tut dies unter dem Strich dem Abend nur wenig Abbruch. Zu stark ist der Sog der Erzählung, zu hoch schlagen die Nordseewellen an das Gemüt der Beteiligten. Eine ansprechend feindselige Figur macht in diesem „Schimmelreiter“ Gregor Müller als Haukes Gegenspieler, Großknecht Ole Peters. Seine Spießgesellen beim Hauke-Bashing (Marin Skoda als Iven Hohns und Philip Richert als Carsten) können da nicht mithalten. Beate Wiedenhammer als Oles Freundin Vollina Harders hingegen schon. Anstrengend hingegen sind für den Betrachter die plumpen Überzeichnungen der Trien Jans und des Oberdeichgrafen durch Ulrike Gronow, die offenbar komisch gemeint sind.

Der damalige Thalia-Dramaturg und Schriftsteller John von Düffel, der von 2000 bis 2009 in Bremen und Hamburg lebte und arbeitete, schrieb seine Schimmelreiter-Fassung im Jahre 2007. Nach der von vielen als den Stoff verwässernd empfundenen Uraufführung am Thalia Theater im Jahre 2008 in der Regie von Jorinde Dröse mit 7000 Litern Wasser pro Abend machte der Schimmelreiter bereits in ganz Deutschland Station. Im Norden ritt er durch Kiel und Bremen, bevor er sich nun im zügigen Trab über Lüneburg wieder seiner Heimatstadt Hamburg nähert.

Theater Lüneburg: „Der Schimmelreiter“ von John von Düffel nach Theodor Storm, Termine: 28. Mai (20 Uhr), Karten: 04131/421 00