SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ist seit zehn Jahren mit aktiven Beiträgen auf den Kirchentagen. Er versichert, die Politiker kämen nicht aus Wahlkampfgründen.

Frank-Walter Steinmeier, Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag, Präsidiumsmitglied des Kirchentags, hielt am Freitag vor 3500 Besuchern eine Bibelarbeit zum Thema Erlassjahr nach einem Text aus dem Alten Testament (5. Mose 15, 1-11). Ein Gespräch über die zweite Chance, Politiker auf dem Kirchentag und Nächstenliebe.

Hamburger Abendblatt: Wie haben Sie das Thema Erlass interpretiert?

Frank-Walter Steinmeier: Es ist ein christliches Gebot, dem Nächsten eine zweite Chance zu geben. Schulden sind Lasten der Vergangenheit, die nach christlichem Verständnis nicht die Chance auf Zukunft rauben dürfen. Auch heute geht es darum, dieses Verhältnis immer neu auszutarieren.

Was bedeutet Ihnen die Kirchentags-Losung "Soviel du brauchst"?

Steinmeier: Das Motto passt in die Zeit. Die Menschen verstehen die Losung richtig. Es ist nicht die Aufforderung, sich so viel wie möglich zu nehmen, sondern das Gegenteil: Überlege dir, wie viel du brauchst und gehe sparsam mit den Dingen um. Alle Themen sind enthalten - Nachhaltigkeit, Ressourcenverbrauch, soziale Gerechtigkeit.

Wie empfinden Sie den Kirchentag?

Steinmeier: Ich bin seit zehn Jahren mit Beiträgen dabei, für mich ist Kirchentag jedes Mal ein kleines Wunder. Die Veranstaltung wird von ehrenamtlicher Arbeit getragen, meist engagieren sich sehr junge Menschen aus ganz Deutschland, es funktioniert jedes Mal. Dieses grenzenlose Engagement begeistert mich. Und die Menschen genießen, dass die Veranstaltung nur in Grenzen planbar ist. Man kann zwar eine Losung vorgeben und organisieren, aber die Menschen suchen sich die Themen, die ihnen auf der Seele liegen. Ein Kirchentag ist Forum für viele, aber auch Gratmesser, was an Sorgen und Nöten, Befürchtungen und Hoffnungen unterwegs ist.

Macht Hamburg seine Sache gut?

Steinmeier: Auf jeden Fall. Die Stadt zeigt sich von ihrer besten Seite, einschließlich des Wetters. Es war ja ein Wagnis, hier Anfang Mai viele Freiluftveranstaltungen anzusetzen.

Sind Politiker hier am richtigen Platz?

Steinmeier: Alle Politiker, die hier sind, waren auch auf den letzten fünf oder zehn Kirchentagen, sie kommen also nicht aus Wahlkampfgründen. Ich finde es falsch, wenn Politiker nicht herkommen und sich vor den eher unbequemen Debatten drücken würden. Hier werden Politiker nicht nur bejubelt, sondern vor allem in die Mangel genommen.

Werden Themen anders angegangen und behandelt als im Politikbetrieb?

Steinmeier: In den Debatten gibt es keinen professionellen Politiktalk, in dem Stichworte oder Halbsätze ausreichen, um sich zu verständigen oder alte Kontroversen zu pflegen. Hier in den Foren sind die Fragen viel nachdrücklicher und damit oft auch unbequemer. Dem muss man sich stellen.

Hat Ihnen der Glaube schon mal bei schwierigen Entscheidungen geholfen?

Steinmeier: Ich bin sehr zurückhaltend, politische Alltagsentscheidungen aus der Bibel abzuleiten. Der Glaube vermittelt Orientierung und Vertrauen, dass auch schwierigste Situationen im Privaten und Politischen nie ohne Ausweg sind und die Zukunft offenbleibt.

Hat Sie das auch getragen, als Sie Ihrer Frau eine Niere gespendet haben?

Steinmeier: Sicher gehört die Organspende generell in den Bereich von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe. Wenn man mit einem Menschen eng zusammenlebt, den man liebt, dessen Leiden immer schlimmer wird, möchte man nur helfen und den Zustand verbessern, nicht nur für den anderen, ehrlicherweise auch für sich selbst.