Meret Becker spielt in „Fliegende Fische müssen ins Meer“ der schweizerisch-türkischen Regisseurin Güzin Kar das unorthodoxe Familienoberhaupt.

Nana ist fast 16. Eigentlich noch ein halbes Kind, aber sie muss Verantwortung übernehmen. Für sich selbst und für ihre beiden Geschwister. „Ich habe die Arschkarte unter den Müttern gezogen“, sagt sie. Roberta, 38, arbeitet tagsüber als Fremdenführerin und abends als Verführerin. Immer wieder geht sie in ihrer grenzenlosen Naivität irgendwelchen Männern auf den Leim, die ihr beim Abendessen das Blaue vom Himmel versprechen, am nächsten Morgen aber auf und davon sind. „Du verhütest gefälligst!“, ruft ihre neunjährige Tochter Tatjana ihr hinterher, als sie sich eines Abends wieder aufgebrezelt davonmacht.

Alle Kinder sind von unterschiedlichen Vätern und könnten unterschiedlicher kaum aussehen: Nana blond, Tatjana mit braunem Teint und Afro-Frisur, Toto, der jüngste, rothaarig und sommersprossig. Die Halbgeschwister haben sich auf dieses unorthodoxe ungeregelte Leben eingestellt, nur das Jugendamt spielt nicht mehr mit. Als Roberta nachts halb nackt von der Polizei aufgegriffen wird, schreitet die Behörde ein und droht, die Kinder in ein Heim zu stecken. Roberta gelobt Besserung, aber Nana will sich darauf nicht verlassen. Sie weiß, dass ihre Mutter dringend einen Mann braucht. Also fängt sie selber an zu suchen.

„Fliegende Fische müssen ins Meer“ heißt der Film von Güzin Kar. Die schweizerisch-türkische Autorin und Regisseurin lässt ihren Coming-of-Age-Film im idyllischen Hochrheintal spielen, wo sie selbst aufgewachsen ist. Die 42-Jährige hat an der Filmakademie Ludwigsburg studiert und unter anderem das Drehbuch für „Die wilden Hühner“ nach einer Romanreihe von Cornelia Funke geschrieben. „Fliegende Fische müssen ins Meer“ ist ihre dritte Regiearbeit für das Kino. Arte zeigt den sich zwischen Provinzposse und Sozialdrama bewegenden Film als Erstausstrahlung.

Güzin Kar erzählt die Geschichte dieser dysfunktionalen Familie in knallbunten Farben. Ein Gefühl von Tristesse lässt sie trotz des ernsten Themas niemals aufkommen. Ihre Figuren, vor allem die schwer erziehbare Mutter, tragen knallbunte Klamotten, in nahezu jeder Einstellung gibt es zumindest ein buntes Detail, das ins Auge sticht. „Ich bin eine regelrechte Farbfetischistin“, sagt die Regisseurin. „Ich wollte einen bunten Film machen, der trotz aller Alltagssorgen Nanas kindlich-verspielter Perspektive dient.“ Manchmal erinnert die leuchtende Ausstattung an die Tragikomödien von Wes Anderson, der mit „The Royal Tenenbaums“ und „Moonrise Kingdom“ völlig überdrehte Familiengeschichten ins Kino gebracht hat. Die gelben Kleider der „Bachforellen“, so heißt der örtliche Frauenchor, wirken genauso komisch wie die roten Trainingsanzüge von Ben Stillers Familie in den „Tenenbaums“.

Der Titel von Güzin Kars Spielfilm bezieht sich auf den Berufswunsch ihrer toughen Teenager-Heldin. Nana arbeitet trotz ihrer fünfzehneinhalb Jahre bereits als Schleusenwärterin ihres Heimatstädtchens in der Schweiz. Sie träumt davon, zur See zu fahren und ein weiblicher Kapitän zu werden. Doch die Seefahrtsschule in Hamburg kommt ihr genauso weit vor wie ein Flug zum Mond. Erst als der junge Arzt Eduardo (Barnaby Metschurat) ihr Mut macht, glaubt Nana daran, dass aus einem Traum Wirklichkeit werden kann. Doch bis zur Küste im Norden ist noch ein weiter Weg für das junge Mädchen.

Glück und ein gutes Händchen hat Güzin Kar bei der Auswahl ihrer Schauspieler gehabt. Meret Becker spielt die Roberta als eine Person, die zwar einen Hau hat, aber wegen ihrer Träumereien und ihrer positiven Ausstrahlung dennoch liebenswert rüberkommt. Sie liebt ihre Kinder und ist alles andere als eine Rabenmutter. Nur ein normales Leben bekommt sie nicht hin. Durch ihren Eigensinn verdirbt sie es sich mit vielen, die es gut mir ihr meinen.

Die junge Elisa Schlott muss all die kleinen familiären Brandherde löschen, die die Mutter entfacht hat. Die 19 Jahre alte Schauspielerin schafft das in ihrem vierten Film mit Bravour. Sie muss eine große Bandbreite abdecken, den einsamen Teenager genauso wie die starke große Schwester oder – in ihren Träumen – den verführerischen Vamp spielen. Männer spielen bei Güzin Kar ebenfalls eine wichtige Rolle: Bei der Suche nach einem Ersatzvater fällt Nanas Wahl auf den jungen Arzt Eduardo, den Barnaby Metschurat als zurückhaltenden und verständigen Softie spielt. Leider verliebt Nana sich in den gut aussehenden Mediziner, was dem Plot noch einen weiteren tragischen Dreh gibt. Roberta wird unterdessen von dem rundlichen Gärtner und Chorleiter Karl (Hanspeter Müller-Drossart) umworben. Der spielt den kinderlieben Onkel und Freund. Seinen Satz „Gartenarbeit ist besser als Sex“ möchte er später zurücknehmen, weil er sich doch nicht „als Mann ohne Unterleib“ sieht. Auch sein schönstes Hawaiihemd vermag Roberta nicht zu entflammen.

Neben den tollen Schauspielern überzeugt die Leichtigkeit, mit der die Regisseurin und Autorin das ernste Thema behandelt. Die Dialoge sind pointiert, viele Szenen komödiantisch überhöht, ohne albern oder unglaubwürdig zu wirken. Der Film spiegelt das schwierige Leben einer allein erziehenden Mutter, die nicht mit vielen Talenten gesegnet ist und sich in Träume oder Zwiegespräche mit der heiligen Maria flüchtet. „Uns verbindet etwas“, sagt Roberta zu der Marienstatue, „Kinder ja, Männer nein.“

„Fliegende Fische müssen ins Meer“, heute, 20.15 Uhr, Arte