Adam Johnsons mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Roman „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ spielt virtuos mit der Wirklichkeit

Just in die aktuelle Weltlage, in der der säbelrasselnde Machthaber Kim Jong-un die Welt in Atem hält, hat Adam Johnson eine eigenwillige Innensicht aus diesem abgeschotteten Land geschrieben und dafür den diesjährigen Pulitzer-Preis erhalten. „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“, erschienen bei Suhrkamp, erzählt von dem gleichnamigen Jungen, der in einem Waisenhaus im Nordkorea Kim Jong-ils aufwächst. Der Vater ist unbekannt, die Mutter angeblich eine Tänzerin. Das Leben besteht aus Mangel und Mühsal. Der Name Jun Do markiert seinen Träger bereits als einen amerikanischen „John Doe“, Synonym für einen Mann ohne Identität.

Diese ist zunächst brüchig und kommt Do im Laufe der Romanvolten abhanden. Eine neue wird sich finden. Zunächst trägt er wie alle Waisen den Namen eines Märtyrers der Revolution, der sich aus Loyalität erhängte. Schon im Waisenhaus mit dem zynischen Namen „Frohe Zukunft“, beginnt er, in das Vakuum hinein, das ihn umgibt, Dinge zu imaginieren, sich der Wirklichkeit zu bemächtigen. Und mit pragmatischer Schläue seinen Pfad durch das Dickicht dieses Systems zu finden, bis er vom Opfer zu ihrem Feind wird.

Jun Do ist damit ein klassischer taumelnder Tor, wie vor ihm der mittelalterliche Anti-Held Parzival oder der moderne Forrest Gump. Seine Erlebnisse reichert der Autor an mit innerer Reflexion und Hochspannung aus einem der letzten exotischen, unbekannten Winkel der Erde. Notwendigerweise auch mit viel Drastischem. Das Waisenkind schafft sich die Welt, wie sie ihm gefällt. Der gestrenge Aufseher des Waisenhauses wird zu seinem Vater. Die Mutter, die er sich schön und stimmgewaltig vorstellt, wähnt er längst in die Hauptstadt Pjöngjang entführt. Das ist Usus in diesem merkwürdigen Land, wo das Verquere und Abnorme Normalität ist. Nach viel Entbehrung und Hunger, in jenen Jahren des „Beschwerlichen Marsches“, in denen die Menschen anfingen, Pflanzen und Bäume zu essen, gelangt Do schließlich im Militärdienst in die Tunnel der entmilitarisierten Zone, die sich bis unter südkoreanisches Land ziehen.

Später wird er zum Entführen von Japanern abkommandiert, die er per Boot vom Strand „pflückt“. Jun Do funktioniert in diesem Uhrwerk. Er vereitelt den Fluchtversuch eines Ministersohnes und wird zum Volkshelden ausgerufen. Fortan bessert sich sein Leben. Er darf eine Sprachschule besuchen und auf einem Fischkutter Spionagedienst leisten. Immer, wenn die See ruhig dazuliegen scheint, bricht im nächsten Moment ein Sturm los. Bei einem Zweikampf mit einem Hai verliert er fast einen Arm. Und lässt sich nach Seemannsart das Bildnis einer Schauspielerin auf die Brust tätowieren, die in seinem Leben noch eine große Rolle spielen wird. Sein Heldenstatus steigt. Er darf sogar auf eine höchst absurde diplomatische Mission nach Texas.

Im zweiten Teil begegnen wir einem anderen Jun Do. Er hat die Identität des Kommandanten Ka angenommen, eines Ministers für Bergwerkgefängnisse, den er zuvor auf einer Odyssee durch diverse Arbeits-lager getötet hat. Inzwischen abgebrüht, übernimmt er dessen Existenz und lebt mit dessen Frau, der Schauspielerin Sun Moon, deren Bildnis bereits seine Brust ziert, und ihren Kindern zusammen. Hier wandelt sich das Heldenepos zur Liebesgeschichte und zum Thriller, der ihn schließlich gewagte Fluchtgedanken für die Angebetete in die Tat umsetzen lässt. Gekonnt verwebt Johnson von nun an die Annäherung des Ersatzehemannes an seine exzentrische Frau und die Verhörmethoden einer besonders unangenehmen Staatseinheit. Spätestens jetzt reiht sich „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ ein in Klassiker der Dystopie wie „1984“ oder „Brave New World“.

Der Roman ist ein gewagtes Konstrukt, der Versuch, ein schwarzes Loch auf der Landkarte ein wenig aufzuhellen. Und nicht nur sein formal packender Zugriff, auch die inhaltliche Unverfrorenheit verschaffen ihm eine starke Wahrhaftigkeitsbehauptung. Was hier als Wahrheit gilt, kommt mit der künstlichen Emphase der Diktatur daher, die man schillernder gar nicht erfinden könnte. Nebenbei stellt ihr Schöpfer in einem Kunstgriff nicht nur das System, sondern auch den Prozess des Schreibens infrage. Oder, wie es Jun Do einmal selbst auf einer seiner Tunnelpatrouillen dämmert: „Niemals die Fantasie anwenden. Denn die Dunkelheit in deinem Kopf füllt die Fantasie mit Geschichten, die nichts zu tun haben mit der wirklichen Dunkelheit um dich herum. Also: Augen auf.“

Johnson recherchierte bei Menschen, die der Diktatur entkommen konnten und erhielt die seltene Erlaubnis, das Land zu bereisen. Bewacht und beäugt bei jedem Schritt, mag dort vieles seine Fantasie angeregt haben. Die Wirklichkeit wird diese Fiktion vielleicht sogar übertreffen. Man kann ihm vorwerfen, das Tragische, Schicksalhafte, die Qualen der Menschen mit Ironie überzogen zu haben. Aber schon in seinen früheren Büchern ist die dunkle, absurde Satire sein Metier. Und die beherrscht er hier meisterhaft.

Adam Johnson: „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“, Suhrkamp, 687 Seiten, 22,95 Euro