Hamburg. Darf man ein Tanzstück über den Tsunami wagen? Solchen Katastrophen künstlerisch gerecht zu werden, kann nicht nur scheitern, sondern auch peinlich wirken. Jenny Beyer entgeht der Gefahr, weil sie das Ereignis in einen allgemeinen Kontext stellt, die Ohnmacht und Verletzlichkeit des Menschen gegenüber den Naturgewalten thematisiert. Zudem entwickelt sie mit dem exzellenten Performer-Quartett für die Kampnagel-Uraufführung des Körpertheaters „All“ eine schlichte, strenge Form.

Die Tänzer führen die Besucher in Gruppen zur Besichtigung eines Unglücksorts. Oder ist es doch die Bildergalerie in einem Museum der Erinnerung? Schwarze Gazeschleier begrenzen die leere Bühne, schaffen eine Perspektive und den „Rahmen“ für die sich oft in Zeitlupe und absoluter Stille entfaltenden Körperbilder, die dem Zuschauer ganz nahe rücken, dann wieder von ihm wegdriften.

Sayaka Kaiwa, Nina Wollny, Antoine Effroy und Matthew Rogers verlieren sich in der Weite der giftgrün leuchtenden sich über ihnen öffnenden oder bedrohlich verdunkelnden Fabrikhallen-Konstruktion. Sie agieren hilflos ausgesetzt in der raffinierten Licht- und eruptiv in die Stille einbrechenden Klanginstallation. In expressiven Posen und Gruppenbildern illustrieren sie Schrecken und Verzweiflung, die Trauer um Tote und das Spenden von Trost.

In Ästhetik, Komposition und Pathos zitiert die Choreografin auch Stilelemente barocker Gemälde. Sie setzt auf Reduktion, bietet dem Betrachter – im Gegensatz zu den Sensationsfotos in den Medien – eine Art Animation, die Bilder im unmittelbaren Kontakt mit den Performern zu erfahren und zu ergänzen. Damit gelingt Beyer der eigentliche Überraschungscoup.

„All“ bis 21.4., jeweils 20.00, Kampnagel, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de