Restaurator Michael Dietz kümmert sich in seiner Altonaer Werkstatt um wertvolle literarische Oldtimer. Seine Werkstatt ist kein verwunschener Ort der Buchheilkunde, Dietz ist ein Meister auf seinem Gebiet.

Hamburg. Im Garten vor dem länglichen Fabrikgebäude steht ein Astronaut, auch an dem schleichen die Züge auf dem Weg zum Bahnhof Altona vorbei. Wenn Michael Dietz von seinem Tagewerk aufblickt, sieht er alle paar Minuten die S-Bahn, sie fährt hier ganz gemächlich. Dietz ist Buchrestaurator, einer der wenigen in Hamburg. Er arbeitet mit ganz alten Büchern, an manchen Exemplaren mehr als einen Monat.

Diese Bücher sind Jahrgang 1602 oder 1736 und damit so ziemlich das Gegenteil der futuristisch anmutenden Modellfigur, die aus einem benachbarten Atelier stammt. Der Astronaut ist aus Plastik und löst sich irgendwann mal auf; wann das sein wird, weiß noch keiner. So alt ist Kunststoff ja noch nicht, es fehlen die Vergleichswerte. Bücher dagegen sind schon ein paar Jahrhunderte älter, sie halten ganz gut. Das weiß jeder, der schon einmal in einem Archiv oder im Altbestand einer Bibliothek recherchiert hat. An Dietz’ Arbeitsplatz sind ein paar von den literarischen Oldtimern zu sehen. Sie wurden aus rustikalen Stoffen hergestellt und trotzen den Zeitläuften. Sie sind groß und klobig, ihr Einband ist aus Schafleder oder Pergament. Das Alter hat sich ihnen eingekerbt, an vielen Stellen ist das Leder spröde, und die oft braunfarbige Hülle wirkt, als hätte sie Pigmentstörungen. Die Zeit hat Flecken und Risse hinterlassen. Bei Dietz lagern die kostbaren Stücke in einem Safe, den das Ortsamt Blankenese einst aussortierte, sie liegen auf den Werkbänken und stecken in der Presse. „Werkstatt Papier“ heißt das Unternehmen, das der Hamburger zusammen mit Anne-Katrin Haase betreibt. Es riecht hier nach Papier, nach vergilbten, gewellten, dicken Seiten – vielleicht bildet man sich das aber auch nur ein. „Das Ziel meiner Arbeit ist“, sagt Dietz, „dass alte Bücher wieder benutzbar sind“.

Zuletzt hat er Bücher aus den Bibliotheken von Johanneum und Christianeum restauriert. Eine plattdeutsche Ausgabe von Sebastian Brants „Narrenschiff“ zum Beispiel, sie stammt aus dem 18. Jahrhundert. Oder Carsten Niebuhrs „Reisebeschreibung nach Arabien und andern umliegenden Ländern“ aus dem Jahr 1774 und eine „Inkunabel“ aus dem Jahr 1480. Inkunabeln sind die Wiegendrucke unserer Buchkultur, sie entstanden vor 1500 und haben oft, wie im Falle des von Dietz restaurierten Buchs, einen Einband mit Kette. Manche Texte waren schon früher nicht für jeden bestimmt, und der Zugangscode war in grauer Vorzeit keine Zahlenkombination, sondern ein massiver Schlüssel.

Die Dietz-Werkstatt ist kein verwunschener Ort der Buchheilkunde, der 63-Jährige ist kein Buchalchimist, sondern ein Handwerker und Meister auf seinem Gebiet. „Hier ist nichts geheimnisvoll“, sagt er und zeigt auf die Regale, auf denen beinah jeder Zentimeter belegt ist. Hier sind Bretter aneinandergereiht, die Dietz zum Pressen verwendet, Trockenpapiere gegen drohende Verklebungen, Färbemittel, Leim, Werkzeuge, um Messingbeschläge abzunehmen. An der Wand hängt ein kleines Poster von Keith Richards, dessen Charaktergesicht legendär ist: eine Landschaft, über die ein stürmisches Leben hinweggegangen ist. Dietz, der zwischen Blankenese und Iserbrook aufwuchs, hat selbst ein paar Falten in Gesicht. Das gibt seinem Besitzer ja immer eine individuelle Note. Dass man es bei Büchern oft mit seltenen Unikaten zu tun hat, lernte Dietz einst bei einem alten Buchbinder, der am Landwehrbahnhof seine Werkstatt hatte. „Ein Jahr lang habe ich ihm über die Schulter geschaut und mit Augen und Händen gelernt, das war ein wichtiger Teil meiner Ausbildung“, sagt Dietz. Er verdankt diesem Mann viel. Deshalb hängt ein Foto von ihm in der Werkstatt in Altona, eine Erinnerung an die Zeit, in der Dietz einen Beruf lernte, auf den er aus bloßem Zufall stieß.

Mehr als ein Vierteljahrhundert ist das jetzt her. Eigentlich ist Dietz Lehrer für Deutsch, Geschichte und Sport. Einen Job damals bekam er nicht, es gab viel zu viele Lehrer mit seiner Fächerkombination. Dietz arbeitete in der Erwachsenenbildung am Goethe-Institut, und er entdeckte eine Faszination für Bücher, die ihn nicht mehr loslassen sollte. Zehn Jahre lernte er insgesamt sein Handwerk. Buchrestaurator, das ist kein klassischer Lehrberuf. Buchbinder machen neue Einbände, sie schaffen etwas, was vorher noch nicht da war. Restauratoren dagegen reparieren, bessern aus, konservieren.

Und sie zerstören manchmal. Wenn es nötig ist, wird ein Buch komplett auseinandergenommen. Die Seiten werden dann „durchgewässert“, wie es in der Sprache des Restaurators heißt, getrocknet und nachgeleimt. Das Papier wird erst gesäubert, dann bessert Dietz mit speziellem Papier („Japanpapier“) und Kleister schadhafte Stellen aus. Dabei nimmt er nur Kleber, der auch schon vor 500 Jahren verwendet wurde. Dietz nennt sein Vorgehen „minimalinvasiv“ – das antiquarische Buch wird nicht aufgemotzt, die Spuren der Zeit werden nicht getilgt. Das Eigenleben des Buchs soll nicht gestört werden.

Oft ist der Buchrücken gebrochen oder anderweitig schadhaft, das Buch hat keinen Halt mehr. Um ihm diesen zurückzugeben, unterbaut Dietz den ledernen Rücken mit einem Unterbau – möglichst diskret und unauffällig. Die Veränderungen müssen sich einfügen in die Geschichte des Buchs. Die Kratzer bleiben.

Es ist ja nicht so, dass sich die Menschen, die mit den alten Werken zu tun haben, einig wären: Manche würden sie am liebsten nur wie museale Objekte in den Schaukasten stellen. Als Relikte, denen man beim Verblassen zusieht. Die Inkunabeln, sagt Dietz, „werden uns noch alle überleben“. Und ihm ist es, wie vielen anderen auch, daran gelegen, dass die Bücher noch in die Hand genommen werden. Dietz selbst interessiert sich nicht immer für das gedankliche Innen der Gegenstände seiner Arbeit. Wie auch? Das Theaterbuch des Terenz zum Beispiel, das er jetzt für das Johanneum restauriert hat, ist auf Latein verfasst, „mein kleines Latinum reicht dafür nicht“, sagt er und grinst. Trotzdem preist er die Qualität des Werks, das von schönen Stichen bebildert wird.

Die Kunden der Altonaer Werkstatt Papier sind seltener Privatleute und öfters Antiquare oder öffentliche Institutionen wie Schulen, Staatsarchiv oder Staatsbibliothek. Privatleute sind entweder bibliophile Sammler und Bucharchäologen oder Zeitgenossen mit bestimmten Interessengebieten (etwa Münzsammler), die alte Fachliteratur hinzuziehen. Dietz arbeitet in der Nische, er ist ein Spezialist und anerkannter Fachmann. Reich wird der Sohn eines Polsterers mit seiner Arbeit nicht, aber er ist zufrieden. Sein iPhone klingelt, die Direktorin des Christianeums ist dran. Am nächsten Tag wird Dietz der Schule die historischen Prachtbände vorbeibringen, er sagt: „Ich habe es nie bereut, diesen Beruf ergriffen zu haben.“