Hamburg. Schütten sie das Kind jetzt mit dem Bade aus? In der Vergangenheit war die Hamburger Camerata spieltechnisch ihren Repertoire-Ansprüchen häufig nur bedingt gewachsen. Dank ausgewechselter Musiker an entscheidenden Pulten und dank ihres neuen Chefdirigenten Simon Gaudenz sind die charakteristischen Intonationswackler von einst jetzt ebenso verschwunden wie der Hang zu rhythmischer Inkonsistenz. Dafür ließ ausgerechnet das „Russische Visionen“-Konzert vom Freitag nun etwas vermissen, woran es der Camerata bei aller Unzulänglichkeit zuvor nie gefehlt hatte: Seele.

Das Notenmaterial des ehrgeizigen Programms – zwei Werke von Dmitri Schostakowitsch und eine Galavorstellung in Sachen Neoklassizismus mit Musik von Igor Strawinsky und Sergei Prokofjew nach der Pause – hatten die Musiker sicher im Griff. Aber atmende, lebendige Musik wurde hinter den vielen Noten nur ausnahmsweise hörbar. Denn Dynamik macht Gaudenz allein zu einer Frage von laut und leise; energetische Valeurs geraten dabei ebenso ins Hintertreffen wie das Verhältnis zwischen Haupt- und Nebenstimmen.

Dafür gelang bei Schostakowitschs Klavierkonzert Nr. 1 c-Moll für Streicher und Trompete die Synchronisation zwischen der temperamentvollen Pianistin Marianna Shirinyan, der Solotrompete und dem Orchester auf den Punkt. Und als die Camerata bei Prokofjews Symphonie Nr. 1 „Classique“ zum guten Schluss einer Frühform des musikalischen Neokonservatismus huldigen durfte, schien auch das Publikum, das zuvor spürbar mit dem kühlen Perfektionswillen seiner runderneuerten Camerata gefremdelt hatte, weithin versöhnt.