Die Schauspieler Nadja Tiller und Fritz Lichtenhahn begegneten sich in der Seniorenresidenz. Es folgten: viele Erinnerungen und ein Hörspiel.

Hamburg. Nadja Tiller beherrscht noch immer die Kunst des Auftritts. Sie läutet in Fritz Lichtenhahns Apartment in der Seniorenresidenz Augustinum, erscheint jedoch nicht. Warten auf den Star. Fünf Minuten später klingelt es erneut. "Ich habe meine Hörgeräte vergessen", entschuldigt sich die vor allem in den 50er- und 60er Jahren berühmte Diva des deutschen Kinos mit charmantem Lächeln. Bald 84 Jahre alt, strahlt sie noch immer Souveränität aus, das elegante Charisma einer Salondame. Vor fünfeinhalb Jahren ist sie mit ihrem Mann Walter Giller (er verstarb im Dezember 2011) ins Augustinum gezogen. "Es hieß immer, die beiden sollten kommen, sie kamen aber nicht", erzählt Lichtenhahn amüsiert. "Und dann waren sie endlich da."

Der Schweizer Schauspieler, bis 1997 am Thalia Theater und unter Hans Lietzau am Schauspielhaus, kam bereits 2005 mit seiner Frau Margrid in die Wohnung der zehnten Etage mit eindrucksvollem Blick auf Elbe und Museumshafen. Seit Margrids Tod vor zwei Jahren lebt er allein, hat sich ein Musikzimmer mit Flügel eingerichtet. "Ich spiele Bach und Mozart, er hat wunderbar langsame Stücke komponiert. Meine Finger wollen nicht mehr so schnell, und zuhören darf niemand." Auch das Gehen macht dem Achtzigjährigen Schwierigkeiten, sodass er einen Rollator benutzen muss. "Es ist eine gewaltige Brutalität, nach 50 Jahren Ehe allein sein zu müssen", bekennt er beinahe aufgebracht. "Was das Alter vom Menschen noch für Kräfte erwartet, ein ganz neues Leben anzufangen."

Diesem heiklen Thema stellen sich Lichtenhahn und Tiller bewundernswert freimütig in Jean-Claude Kuners ernsthaftem, humorvollen und bewegenden Hörstück "Traumrollen", das am Sonnabend um 20.05 Uhr im Deutschlandfunk urgesendet wird und bereits für den Prix Italia und Prix Marulic 2013 nominiert ist. Die beiden sprechen in einer dramaturgisch klug und subtil montierten Mischung aus Dokumentar- und Spielszenen (u. a. Shakespeare, Goethe, Tschechow, Beckett, Frisch und Karl Valentin) offen über sich, ihre Glanzzeiten, die verpassten Gelegenheiten und nicht immer leicht zu ertragende Gegenwart.

Sie kannten sich vorher nicht, ihre beruflichen Wege kreuzten sich nie. "Wir begegneten uns hier beim Mittagessen, wurden Freunde und kamen beim Plaudern auf die Idee, einen Abend über Liebe und Ehe vorzubereiten." Eigentlich brachte sie ihre Nachbarin, die weltberühmte Sopranistin Reri Grist, auf den Gedanken. Sie logiert ebenfalls hier, wie auch der 1929 in Hamburg geborene Schauspieler Wolfgang Stendar, der Karriere am Zürcher Schauspielhaus machte, bei Gründgens an der Kirchenallee und auch an der Wiener Burg gastierte. Die Künstler im Ruhestand pflegen untereinander Kontakte, genießen aber im Augustinum keinen Sonderstatus, fühlen sich gerade darum wohl und fabelhaft aufgehoben.

In den beiden rosenholzfarben bezogenen Lehnsesseln vor der Bücherwand und den antiken Keramiken mit schwarzfiguriger Malerei (Lichtenhahns ganzer Stolz) entstanden die Aufnahmen der improvisierten Hörspiel-Dialoge. Beim Erzählen darüber verwandeln Tiller und Lichtenhahn das gediegene Wohnzimmer unversehens in eine Bühne. Schauspieler bleiben eben ihr Leben lang Schauspieler. Sobald sie über Auftritte, Rollen und Kollegen reden, offenbart sich ihre expressive Natur, eine den Zuhörer fesselnde Lebendigkeit und die Liebe für ihre Kunst. Vermissen sie die Bühne? Ja und nein. Nadja Tiller war 1996 als alternde Hollywood-Diva Joan Crawford an den Kammerspielen in Horst Königsteins/Cas Enklaars "Nächte mit Joan" in der Regie des Grimme-Preisträgers zu sehen. 2010 hatte sie noch im Thalia-Zelt einen Starauftritt in Schorsch Kameruns "Vor uns die Sintflut". "Das hat mir Spaß gemacht, in einer Sänfte auf die Bühne getragen zu werden", erzählt sie mit belustigter Selbstironie. "Der Aufwand, meinen Auftritt vorzubereiten, dauerte länger als die ganze Szene."

Eine Hauptrolle würde sie nicht mehr übernehmen. "Dafür fehlen mir die Kräfte", meint sie ohne Bedauern. "Die Gabriele in 'Weihnachtseinkäufe' aus Schnitzlers 'Anatol' würde ich mir aber noch zutrauen." Im Hörstück gehört die kurze Szene zu einem der Höhepunkte. Tiller, in Wien geboren, trifft den Ton der großbürgerlichen Dame genau. Sie hätte gern Grillparzers "Jüdin von Toledo" gespielt und in der Käutner-Verfilmung von Alfred Anderschs Roman "Die Rote". "Die Rolle hat dann leider Ruth Leuwerik bekommen."

Dass Lichtenhahn den Romeo nur als "Traumrolle" spielen würde, war ihm schon auf der Zürcher Schauspielschule klar. "Meine war Hamlet. Habe ich nie gespielt, auch später nicht Nathan und Lear." Dafür gab er mit Will Quadflieg 1992 in der Flimm-Inszenierung des "Lear" den Grafen Gloster. 1997 bat Lichtenhahn, aus dem Vertrag entlassen zu werden, weil ihn Textängste bei der Handke-Premiere "Zurüstungen für die Unsterblichkeit" befielen. "Die Inszenierung war für mich eine Katastrophe. Ich fühlte mich schutzlos, wollte nicht mehr auftreten, und Flimm hat es mit Schmerzen verstanden."

Was hätten wir anders im Leben machen können, fragen sich Tiller und Lichtenhahn im Hörspiel, wenn sie aus Frischs "Biografie. Ein Spiel" lesen. Tiller hatte aus Unerfahrenheit Angebote für berühmt gewordene Filme abgelehnt: Fellinis "La Dolce Vita", Antonionis "La Notte" und die Girardot-Rolle in Viscontis "Rocco und seine Brüder". "Später dachte ich, wie kann man nur so dumm sein, und bereute es natürlich. Inzwischen ist es mir völlig egal. Ich bin zufrieden mit meiner Karriere. Es war sicherlich gut so, mein Leben wäre anders verlaufen." Auch in Lichtenhahns Laufbahn gab es eine Wende. "Hans Lietzau, bei dem ich damals engagiert war, hätte mir niemals die Erlaubnis gegeben, mit Dieter Wedel den Bruno Semmeling im Dreiteiler 'Einmal im Leben' zu drehen", erinnert er sich. "Doch sein Nachfolger Rolf Liebermann, ein weltmännischer Managertyp, hatte nichts gegen das Fernsehen. Ich hätte es vielleicht nie kennengelernt." Und auch nicht die Popularität. "Ich war schon sehr erstaunt, als mich deutsche Touristen in Paris als Herrn Semmeling begrüßten."

Bekannt zu sein, das war Tiller zeitlebens gewohnt, konnte gut damit umgehen. "Aber damals hatten die Leute mehr Respekt vor den Stars als heute. Meinem Mann haben sie schon mal auf die Schulter geklopft, aber mir nie."

Für die Älteren ist sie nach wie vor ein Begriff. Als sie unlängst im Bus fuhr, hielt der Fahrer extra beim Augustinum an, um sie aussteigen zu lassen. Ein junger Taxifahrer indes fragte, kaum, dass sie eingestiegen war: "Sagen Sie, wohnt Nadja Tiller immer noch im Haus?"

"Traumrollen" 13.4., 20.05, Deutschlandfunk