Regisseur Thomas Vinterberg über Rollenbilder, seinen neuen Film “Die Jagd“ und die Gewissheit, dass nichts bleibt, wie es ist

Hamburg. Vor 15 Jahren gelang Thomas Vinterberg mit dem Familiendrama "Das Fest" ein Welterfolg. Er war der jüngste der vier dänischen Regisseure, darunter auch Lars von Trier, die das Manifest "Dogma 95" unterzeichnet hatten, das für "reinere" Filme sorgen sollte. Vinterberg war damals noch nicht einmal 30 Jahre alt und galt als eine Art Wunderkind. Dann folgten wenige und nicht besonders erfolgreiche Filme. Im vergangenen Jahr gelang ihm mit dem mehrfach preisgekrönten "Die Jagd" in Cannes ein bemerkenswertes Comeback. Mads Mikkelsen spielt darin Lukas, einen Kindergartenmitarbeiter, der von einem kleinen Mädchen fälschlicherweise als Pädophiler gebrandmarkt wird. In der Dorfgemeinschaft schlägt ihm danach der blanke Hass entgegen. Auch seine Freunde wenden sich ab. Am Donnerstag kommt der Film ins Kino.

Hamburger Abendblatt:

Wenn man Ihren Film sieht, könnte man annehmen, die Schicht der Zivilisation über unserer Gesellschaft ist nur sehr dünn.

Thomas Vinterberg:

Glauben Sie? Für mich ist dies hier ein Film über Liebe.

Wieso denn das?

Vinterberg:

Was mich sehr bewegt, ist die Liebe zwischen Mads Mikkelsens Charakter, dem Mädchen und ihrem Vater. Aber natürlich beschreiben wir den Verlust von Unschuld, denn es ist natürlich eine Hexenjagd. Ich habe es nur noch nicht aus diesem Blickwinkel gesehen. Lukas bleibt vielleicht zu lange zivilisiert. Als er schließlich durchdreht und einem Mann im Supermarkt einen Kopfstoß verpasst, gab es bei der Premiere in Cannes Szenenapplaus.

Hat Sie das überrascht? Sie haben doch bestimmt vorher Testvorführungen gemacht.

Vinterberg:

Es gab zwar Testvorführungen, aber ich war nicht dabei. Ich war also überrascht. Aber es war auch befriedigend, denn in dem Moment fühlt man sich, als sei eine Last von den Schultern genommen worden. Es eröffnet interessante Diskussionen. Muss man, wenn man als Mann gelten will, auch unzivilisiertes Verhalten an den Tag legen können? Sind wir zu freundlich, benehmen wir uns zu asexuell, zu wenig aktiv? Besonders wir in Skandinavien, aber das gilt natürlich auch für Hamburg, das ja lange Zeit zu Dänemark gehörte.

Moment. Altona und Holstein gehörten zu Dänemark, Hamburg nicht. Warum ist es schwer, heutzutage in Skandinavien ein Mann zu sein?

Vinterberg:

Sehen Sie doch mal die Frauen! Sie sind sehr schön, stark und entscheidungsfreudig. Die Männer übernehmen immer weniger Verantwortung und sind nicht mehr so männlich. Ursprünglich war Lukas im Drehbuch ein Typ wie Robert De Niro in "Die durch die Hölle gehen", ein Kerl, der nicht viele Worte macht. Aber als Mads Mikkelsen drei Wochen vor Drehbeginn zu uns kam, gefiel uns das nicht mehr, weil er schon früher so einen Typen gespielt hatte. Darum habe ich ihm vorgeschlagen den Protagonisten zu einem bescheidenen, gutherzigen, fast schon christlichen Lehrer zu machen. Das hat uns beiden gut gefallen. Aber es ging für uns immer um den Verlust von Unschuld. Ich bin in den 70er-Jahren in einer Kommune aufgewachsen. Kindesmissbrauch war für uns kein Thema. Ich konnte bei jemand auf dem Schoß sitzen, ohne dass es Probleme gab. Heute hat man sogar in Kindergärten die Toilettentüren abmontiert. Ein Lehrer kann nicht einfach so ein weinendes Kind umarmen. Vielleicht ist das notwendig, aber es ist auch traurig. Es ist natürlich eine Folge des Wissens um Missbrauch, aber wir verlieren dadurch auch etwas.

Natürlich ist Ihr Film Fiktion, aber er hat Bezüge zum Alltag. Sind wir zu schnell mit Anklagen bei der Hand, und warum schaffen wir es nicht, unsere Kinder zu beschützen?

Vinterberg:

Wir beschützen sie vielleicht sogar zu sehr und machen sie so zu Opfern. Wenn ein Junge von vier oder fünf Jahren im Kindergarten eine Toilette ohne Türen benutzen muss, verletzt man ihn doch auch. Man sexualisiert so eine Alltagssituation als Folge eines übertriebenen Beschützenwollens. Aber das ist ein schwieriges Thema, denn wir wissen ja, was so alles passiert. Ich habe auch keine Lösungen dafür, aber wenn wir das Thema Pädophilie mal verlassen, finde ich, dass wir unsere Kinder in einem Maße beschützen, dass es fast schon aussieht, wie Angst vorm Leben.

Ist es eigentlich ein Zufall, dass es in ihren beiden erfolgreichsten Filmen "Die Jagd" und "Das Fest" um missbrauchte Kinder geht?

Vinterberg:

Beide Geschichten sind sehr düster. Ich weiß nicht, ob das ein Zufall ist.

Sie sind im vergangenen Jahr für diesen Film in Cannes gefeiert worden. Das war ein Erfolg nach einer langen Durststrecke. War er ein kreativer Schub für Sie?

Vinterberg:

Ich hatte meine Jahre in der Dunkelheit, aber die habe ich auch genossen.

Wieso?

Vinterberg:

Weil sie mir erlaubt haben, Dinge zu machen, auf die ich stolz bin. Natürlich war es manchmal auch schmerzhaft, aber es war eine notwendige Erforschung meiner selbst. Ich bin zum Beispiel ungeheuer stolz auf meinen Film "It's All About Love", auch wenn darin nicht alles funktionierte. Jetzt habe ich plötzlich kommerziellen Erfolg, und ich erlaube mir auch, ihn zu genießen. Aber ich weiß, dass alles nur eine Achterbahnfahrt ist.

Das nennt man ja wohl Lebenserfahrung.

Vinterberg:

Als die dänische Schriftstellerin Karen Blixen Afrika verlassen hat, gab ihr Diener ihr ein kleines Geschenk. Er sagte ihr: Mach es bitte nicht auf, es sei denn, du hast das Gefühl, gerade auf dem Gipfel oder dem Tiefpunkt deines Lebens zu stehen. Jahre später war sie in New York, hatte eine Menge Preise gewonnen, Hemingway hielt sie für die Größte. Da hat sie das Geschenk ausgepackt. Darin war ein Zettel mit der Aufschrift: Es bleibt nicht so.