Der Hamburger Ex-Kraftwerker Karl Bartos veröffentlicht mit dem famosen Gesamtkunstwerk “Off The Record“ sein zweites Soloalbum.

Hamburg. Kritikerzungen behaupten, Karl Bartos veröffentliche die besseren Kraftwerk-Alben. Auf dieses Kompliment hin lächelt der 60-jährige Musiker, DJ und Produzent nur dezent. Ein jovialer, gepflegter älterer Herr, dem das Revoluzzertum immer noch aus seiner Punkfrisur spricht. "Wenn man als Institution begriffen wird, wird das Handeln sehr schwer", sagt er und zieht an diesem kalten Wintermorgen seinen dicken Mantel zu.

"Man läuft Gefahr, das ganze Lebenswerk mit einer schlechten Arbeit zu zerstören." Ja, Legenden haben es schwer. Bewertungen müsse man den Beobachtern überlassen, und da könne man nur um eine faire Betrachtung bitten. Mehr will er zu diesem Kompliment nicht sagen. Der Zweite von links in dem klassischen Mensch-Maschine-Bühnensetting Kraftwerks so wie damals, in den Jahren 1975 bis 1990, als er bei den Elektropionieren dabei war, mag er heute nicht mehr sein.

Es gab ja auch gute Gründe, auseinanderzugehen. Musikalische Stagnation zählte dazu. Bartos hat in den Jahren nach Kraftwerk in diversen Projekten und Formationen, unter anderem bei Electronic, mitgewirkt, doch erst jetzt erscheint mit stolzen zehn Jahren Abstand zum Debüt sein zweites Soloalbum. "Off The Record" ist ein Gesamtkunstwerk aus Musik und Film. Auf dem Cover prangt ein jüngerer Bartos-Wiedergänger als Roboterfigur.

Für das Album hat er Schubladen mit altem, vergessenem, unveröffentlichtem Material durchforstet. Und in zweijähriger Arbeit zwölf Songs zu einem musikalischen Tagebuch arrangiert. Es ist alles da, für das die Fangemeinde Kraftwerk bis heute liebt. Der Vocoder-Sprech, die Roboter-Sounds, allerlei Elektronik-Avantgarde und die digitalen Rhythmen. Zu jedem Track steuert Bartos einen Text bei. Ein wenig Hintergrundwissen schadet nicht. Denn das Album strotzt vor Querverweisen und Bezügen.

In dem am Neoklassizismus Strawinskys orientierten "Atomium" sinniert er über die Fortschrittsgläubigkeit der Nachkriegszeit. "Vox Humana" ist inspiriert von Stockhausens "Gesang der Jünglinge". In "Instant Bayreuth" huldigt Bartos mit erhabener Melodie einer Hassliebe zum Komponisten Wagner, an dessen Genie man ja nun mal nicht vorbeikäme, aber "die Opern sind für mich schwer durchzustehen". "Without A Trace Of Emotion" ist vielleicht der schönste Song des Albums, darin erlaubt sich Bartos davon zu träumen, die eigene Person zu remixen, mit neuen Gefühlswelten angereichert.

"Off The Record" ist natürlich ein lupenreines Konzeptalbum. Mit dem Sechs-Minuten-Track "Silence" ist auch ein Zitat von John Cage zu finden, in dem - nichts geschieht. Im Video zu "Nachtfahrt", einem von vier experimentellen Filmen, sieht man Bartos seinen Wagen durch ein imposantes Sommergewitter auf der Autobahn steuern. Das Visuelle ist an die 1920er-Jahre angelehnt, als die Avantgardebewegung des Futurismus aufkam. "Das war die tollste Zeit in der Kunst, an die man sich erinnern kann", sagt Bartos. "Auf einmal hat man entdeckt, dass sich Musik auch mit Klängen aus der Natur, der Technik und der Umwelt herstellen lässt. Die Musique concrète kam auf." Für Bartos eine Fortführung der Ideen des Futuristen Marinetti. "Im Rhythmus wird die visuelle Ebene zu Musik."

Für den Hamburger mit Wohnsitz in Rissen ist die Reflexion über Klangkunst ebenso wichtig wie diese selbst. Fünf Jahre lang hat er an der Universität der Künste in Berlin Auditive Mediengestaltung am Studiengang "Sound Studies - Akustische Kommunikation" mit aufgebaut. Jedes neue Album beginnt mit einer Analyse. Was haben die Vorläufer gemacht. Chuck Berry oder James Brown. Wie wurde der Rhythmus beim Transport von Amerika nach Europa gerade, wie wurden aus punktierten Noten in Liverpool Achtelnoten.

Aus Bartos spricht ein veritabler Musikarbeiter mit einem soliden Fundament. Er hat in Düsseldorf klassische Musik studiert, bei Karlheinz Stockhausen gelernt und sich mit John Cage, Maurizio Kagel und Opern beschäftigt. Bis die damals unbekannte Band Kraftwerk einen Schlagzeuger für ihre US-Tour suchte. "Ich konnte auch Popmusik", sagt Bartos. Er war an Bord. Schrieb mit an "Man-Machine", "Computer World" und "Electric Café". Bartos ist ein Kind der 1960er-Jahre, musikalisch und geistig. Bis heute begegnet er Autoritäten mit Misstrauen. Damals befeuerte das die Gegenkultur und erleichterte es jungen Musikanwärtern, eine eigene Botschaft zu entwickeln.

Das Lebenswerk von Kraftwerk ist derzeit wieder sehr präsent. Museen in aller Welt führen vor ausverkauftem Haus Kraftwerk-Abende auf, an denen die Erfolgsalben durchgespielt werden. Ein wenig geärgert hat Bartos, dass das Museum of Modern Art in New York ein Konzert als Retrospektive bezeichnet hat. Eine solche beinhalte schließlich die Darstellung des Katalogs und eine Neubewertung. "Da kann es nicht sein, dass man etwas als klassisch bezeichnet." Dafür, dass Kraftwerk bis heute als Deutschlands bekanntester Musikexport in aller Welt gilt, hat Bartos eine Erklärung. Sie hätten es damals leicht gehabt. Stockhausen wälzte die Klassik um, aber im Pop existierte nichts Vergleichbares. "Im Schnee gab es frische Fußspuren, und da ist Karl Bartos durchgelaufen", sagt er.

Die Suche nach dem Geheimnis der Musik, nach der individuellen Klangbiografie ist sein Motor. "Warum bringt Musik in dem einen etwas zum Klingen, und der andere überhört es?" Bartos lächelt mit einem Ausdruck von Lebensklugheit, aber auch konservierter jugendlicher Neugier. "Es ist die größte Kraft von Musik, die Vergangenheit zu bewahren, einzuschließen, wie in den Formaldehyd-Blöcken von Damien Hirst." Das ist ihm auch persönlich der größte Trost. Einer, der das Wissen erträglich macht, dass man ja wieder wegmuss von diesem schönen Planeten.

Karl Bartos: "Off The Record " Bureau B (Indigo)