US-Autor J.R. Moehringer stellt sein Buch “Knapp am Herz vorbei“ über den beliebten Bankräuber William Sutton vor

Literaturhaus. In den 1920er-Jahren hatten die Menschen in New York nichts zu lachen. Der amerikanische Mythos, dass man über Nacht reich werden konnte, hatte sich durch die Wirtschaftskrise jäh verflüchtigt. Verbürgt ist die Drangsal jener Jahre in den Biografien der großen Gangster, die sich nahmen, was die Gesellschaft ihnen verwehrte. Willie Sutton ist einer von ihnen: "Das Jahrzehnt hat mit einer Depression angefangen und mit einer Depression aufgehört, und dazwischen gab es viele nervenaufreibende Tage."

Mit 68 Jahren kommt Sutton 1969 aus dem Knast, in dem er mehr Zeit verbracht hat als in Freiheit. Bereist mit einem Reporter und einem Fotografen exklusiv die neuralgischen Orte seines vertanen Lebens. Statt Bankenpleiten beherrschen nun die Rolling Stones und Studentenunruhen das Bild. Von alldem erzählt J.R. Moehringers Roman "Knapp am Herz vorbei". Der US-Autor und Pulitzer-Preisträger erlangte 2007 weltweiten Ruhm, weil er mit der autobiografischen Liebeserklärung an einen magischen Tresen, "Tender Bar", einen Überraschungshit landete.

Der Nachfolger ist ein ausgefeiltes, anrührendes Stück Literatur, basierend auf der fiktiven Biografie der Räuberlegende. Zwei Millionen Euro räumte Sutton aus Hunderten von Banken aus. Nie fiel dabei ein Schuss. Er nahm immer nur von denen, die mehr als genug hatten. Und oft landete das Geld bei alten Damen, die ihr Begräbnis nicht bezahlen konnten oder es diente dazu, Prostituierte freizukaufen. 1980 starb Sutton mit 79 Jahren als eine Art Volksheld. Am Dienstag stellt J.R. Moehringer das mit "Knapp am Herz vorbei" etwas unglücklich übertragene Buch, das im Original einfach "Sutton" heißt, im Literaturhaus vor. Brigitte Jakobeit, die den Roman auch übersetzt hat, liest den deutschen Text.

So wie die empörte Bevölkerung, die den Verräter des "Asphalt-Robin-Hoods" jagte, fühlt der Leser unweigerlich mit Sutton, diesem aufrechten Sohn irischer Einwanderer, von den Brüdern gemobbt, ein Gelegenheitsarbeiter, der aus fataler unglücklicher Liebe zum Verbrecher wird, ein besonders cleverer und belesener allerdings, der mittels Lektüre von Dante bis Freud Menschen manipulieren lernt und sich dabei irische Tugenden bewahrt: "Das Wichtigste ist immer, dass man nicht verraten wird, weder von Komplizen noch von Bräuten."

Gefängnisschilderungen wechseln mit schillernden Ausbruchsversuchen, etwa jenen von 1945 über einen in zwölf Jahren gegrabenen 30 Meter langen Tunnel, und minutiös geplanten Beutezügen, während Sutton mit dem "Schreiber" und dem "Knipser" durch die Stadt streift. Vorbei an heruntergerockten Herbergen und schäbigen Hotels, in die er aus dem Gefängnis immer wieder flüchtete. Orte der Begegnungen mit den Kumpels Eddie und Happy und solche flüchtiger Liebesversprechen.

"Was du auch tust, tu es mit ganzer Kraft. Ob du eine Bank ausraubst, mit einem Mädchen ausgehst, dir die Zähne putzt - tu es mit und durch deine gottgegebene Kraft oder lass es bleiben", lautet sein Wahlspruch. Er wird ihn in einige Höhen führen, aber ihm die Abstürze nicht ersparen. Sutton erlangte den zweifelhaften Starstatus des meistgejagten Bankräubers seiner Zeit. Und ist am Ende der Verstoßene. Der, der ihn entlarvt und von unbekannter Hand stirbt, wird dagegen zum Märtyrer.

Jenseits der Kriminalstory formen sich die Facetten dieser erstaunlichen Figur zu einem Zeitgemälde. Sutton weiß, dass nicht der Charakter, sondern die Arbeit beziehungsweise ihr Mangel das Schicksal bestimmt. Diese Ansicht eint ihn mit Willy Loman, Arthur Millers verzweifeltem Arbeitslosen aus dem "Tod eines Handlungsreisenden".

Weil aber die Welt nun mal eine "Scheißwelt" ist, muss auch Sutton nach einem Licht suchen. Er findet es in - Büchern. Die Leselust des Gangsters schockiert die braven Bürger, die plötzlich in Scharen die Läden stürmen, um wie er Proust zu entdecken. Auch wenn er nach Jahren aus dem Gefängnis kommt, empfindet er die Welt wie einen vor Jahre beiseitegelegten Roman. Aber er kann sich weder an die Handlung noch an die Figuren erinnern.

Wegen seiner Verkleidungslust und seiner Lügen nennen ihn die Cops "Willie the Actor", dabei ist es ihm todernst und er legt Wert darauf, dass "jedes Wort von ihm stammt". Doch immer wieder kommen auch in "Knapp am Herz vorbei" Zweifel an der Wahrheit seiner Geschichten auf. Möglicherweise führen hier drei Erzählstränge von drei Leben zusammen: eines, an das er sich erinnert, eines, das er erzählt, und eines, das sich wirklich zugetragen hat. Auch der reale Sutton war ein Trickser, es kursierten immer mindestens fünf Versionen einer Begebenheit. Auch diese Tatsache und die vielen lebensklugen Ansichten des introvertierten Räubers erheben ihn zu einer literarischen Figur, die sich zu entdecken lohnt.

Lesung J.R. Moehringer: "Knapp am Herz vorbei" Di 12.3., 19.30, Literaturhaus Hamburg (Bus 6), Schwanenwik 38, Karten 12,-/9,-/7,-

"Knapp am Herz vorbei", übersetzt von Brigitte Jakobeit, S. Fischer Verlag, 448 S., 19,99 Euro