Bühnenarbeiter ohne Glamourfaktor: Bosse weiß, wie er sein Publikum begeistert. Heute erscheint mit „Kraniche“ sein 5. Album.

Hamburg. Ob er rauchen dürfe, fragt Axel Bosse und steigt nach positiver Antwort auf einen Stuhl, um das Oberlicht zu öffnen. Als er wieder am Tisch sitzt, in einem separaten Raum des Cafés Gloria an der Bellealliancestraße, schiebt er ein Stück Käsekuchen auf einem Teller herüber. "Hier, hab ich extra gebacken", sagt er und grinst.

Stimmt natürlich nicht. Aber als sozialer Schmierstoff funktioniert so ein kleiner Kalauer bestens. Und der Musiker, der sich kurz Bosse nennt, hat eben diese spezielle Art: rein in die Situation, hin zum Menschen. Eine Energie, die direkt ist, aber nicht plump. Und die seine Konzerte regelmäßig zu schweißtreibenden Gefühlsbädern macht. Zu Mitsing-Festen. Live-Termine sind oft in Tagen, teils in Minuten ausverkauft. Wie seine beiden April-Gigs in der Großen Freiheit. Im Dezember geht's dann in die Sporthalle. Da ist mehr Platz.

Manche bezeichnen diesen Bosse sogar als den Hamburger Bruce Springsteen. "Wir haben noch nicht ein Konzert gespielt, wo wir nur abgefuckt in der Ecke gestanden haben", sagt er über sich und seine Band. Ein ehrlicher Bühnenarbeiter, der optisch nicht durch großen Glamour auffällt. Mittelgroß, das blond-braune Haar im Leichtmatrosenseitenscheitel, Dreitagebart, mehr so der Sweatshirt-Typ. Bosses Erfolg liegt zum einen in dem Geschick, seine Themen zu denen von vielen zu machen, ohne sich anzubiedern. Zum anderen ist da diese Dringlichkeit. Als müsse alles raus. Vor Publikum. Und auch im Zweiergespräch, wenn er von seiner neuen Platte "Kraniche" erzählt, die an diesem Freitag erscheint.

"Wenn man keine Lust hat, sich zu wiederholen, wird's echt schwierig", sagt der 33-Jährige über den Schaffensprozess zu seinem fünften Album. Die eigene Sprache ist gefunden, aber die Routine lauert bereits hinter der Türe. Da hilft es, wie Bosse es formuliert, "sich Leute zu besorgen, die einem Welten eröffnen". Mariachi-Bläser für "Alter Affe Angst" etwa. Ein Song, in dem er die Sorgen besingt, die sich langsam einschleichen. Als Vater. Mit dem Alter. Oder er engagiert einen Saz-Spieler für die Nummer "Istanbul", in der er die Liebe und das pralle Leben am Bosporus feiert. Den Aufbruch, das Adrenalin. "An jeder Ecke sprießt da ein neuer Laden hoch", erzählt er. "Das hat man in Hamburg gar nicht mehr."

In der Metropole zwischen Europa und Asien verbrachte der Musiker mit seiner Frau Ayse Bosse, einer deutsch-türkischen Schauspielerin, sowie mit seiner siebenjährigen Tochter mehrere Monate. "Direkt am Taksim-Platz. Da, wo's knallt. Wo's auch um 3 Uhr nachts noch voll ist", erinnert sich Bosse und rutscht auf seinem Stuhl hin und her, als durchfahre ihn das mediterrane Lebensgefühl erneut. Sie bewarb in Istanbul ihre Kinokomödie "Entelköy", er schrieb die ersten Songs für "Kraniche".

Bosse, der in Braunschweig geboren ist, zwischenzeitig in Berlin wohnte und mittlerweile mit seiner Familie in Blankenese lebt, mag die Atmosphäre besonderer Orte, um an seinen Liedern zu arbeiten. Ein Wohnwagen an der Elbe. Ein Gutshof in der alten Heimat. Sein Album wiederum nahm er in einem abgelegenen Landhaus im italienischen Umbrien auf, wo Produzent Philipp Steinke ein Studio eingerichtet hat.

"Dieses Jahr kommt die Platte, ich werde ganz viel touren, ich werde ganzkörperlich Probleme haben, weil ich so viel tanze und weil das im Bus so unbequem ist. Und im nächsten Jahr werde ich wieder ganz viel schreiben", sagt Bosse und strahlt so stark, dass überdeutlich ist: Ein anderer Rhythmus ist derzeit nicht denkbar. Wie bei einem Kranich eben, der in Japan Glück und Ausdauer symbolisiert und der als Zugvogel stetig seinen Routen folgt.

Der Kreis, den Bosse nun als Musiker durchläuft, mag der gleiche sein wie bei den vier Vorgängeralben "Kamikazeherz", "Guten Morgen Spinner", "Taxi" und "Wartesaal". Aber die Wahrnehmung habe sich gewandelt. "Ich habe es jetzt geschafft, über mich zu reden, als würde ich mich von oben angucken", sagt er. Die kleinen Dinge mehr schätzen. Situationen anders interpretieren als früher. Erwachsener sein. Ansätze wie diese führen bei Bosse jedoch nicht zu verkopften Popstudien, sondern künden klug und kraftvoll vom Leben.

Die Single "Die schönste Zeit" zum Beispiel ist ein 1-A-Erinnerungssong darüber, wie Mitte der 90er-Jahre die erste Liebe zur Musik und zu einem Mädchen aufflammt. Mit Mofa, Walkman und der Sehnsucht nach den großen Städten. Bosse besingt diese Momente in schlichten Bildern, die sich im Kopf festsetzen, als seien es eigene Erlebnisse. "Der erste Kuss war Erdbeerbowle und Spucke" ist so ein Vers. Piano und Gitarre unterstützen den zartbitteren Schmelz dieser Nostalgie-Hymne, in der er sich vor Neil Young verneigt und um Kurt Cobain getrauert wird.

Dämonen aus der Kindheit ("Familienfest") sind für Bosse ebenso ein Thema wie Überforderung ("Vier Leben") und Entschleunigung ("So oder so", "Müßiggang"). Und auf "Kraniche" finden sich auch zwei Songs, die sich mit der Überschrift "Die komplizierte Frau" betiteln ließen. Die verhaltene Elektropop-Nummer "Sophie" beispielsweise basiere auf einer wahren Geschichte, die sich in Lausanne ereignete, erzählt Bosse. "Da habe ich so jemanden kennengelernt, bei dem ich nach vier Sekunden wusste: Da stimmt was nicht." Ein Mensch in einer Bar, der sich ganz offensichtlich eine Identität zusammenlügt. "Modebusiness, Jetlag und Karl Lagerfeld / Klingt alles wirklich prächtig / Doch ich tippe: 15 Jahre Nachtschicht, alleinerziehend, einsam und sehr herzlich", singt Bosse.

Ihm gehe es in dem Lied aber nicht explizit nur um Frau oder Mann, sondern darum, dass "jeder von uns mehrere Gesichter hat". Letztlich verhandelt Bosse da den Versuch, sich trotz all der Masken kennenzulernen. Und es ist genau dieser Dreh mehr, der einen Bosse-Song aus dem Pop-Einerlei heraushebt.

"Kraniche" von Bosse erscheint bei Universal. Live: 21.12.2013, Sporthalle Hamburg; Internet: www.axelbosse.de