Im Thalia in der Gaußstraße musizieren sich vier Jungdarsteller in eine “Festzeitstory“ hinein, mit Eurodiscohits aus den 90er-Jahren

Hamburg. Jeder kennt das. Die leidige Frage. Was tun zu Silvester? Aus den längst zum gesellschaftlichen Kanon zählenden Nöten zum Jahreswechsel strickt Regisseurin Maria Ursprung am Thalia in der Gaußstraße eine "Festzeitstory", die sich gewaschen hat. Sie hat eine Vorgeschichte.

Gestartet ist sie als Experiment vierer musikalisch begabter Thalia-Jungstars, das zu nächtlicher Stunde für eine handverlesene Schar Eingeweihter im Nachtasyl über die Bühne ging. Doch das Wirken der selbst ernannten "Groupe della Fête" kam so gut an, dass der Intendant sie jetzt auf die Werkstattbühne beförderte. Der Zuschauer kann wählen zwischen Beerdigungsprogramm ("Tier's in Heaven") und Silvesterfeier ("Dinner for Four"). Zur Premiere wird es Letztere.

Viele von Ute Radler erdachte Details des Spießerwohnzimmers vor unseren Augen legen den Verdacht nahe, wir befinden uns in einem wenig geschmackssicherem Haushalt. Sitzgruppe, Häkeldecke, röhrende Hirsche an der Wand. Alles in Braun-Grün. Unerbittlich hat auch Kostümbildnerin Sibylle Wallum zugeschlagen.

Julian Greis gibt den Nerd im türkisfarbenen Pullover und Kassenbrille, Jörg Pohl strömt im flamingofarbenen Anzug, weißen Slippern und Schnäuzer der Schwerenöter aus jeder Pore. Nur Franziska Hartmann ist vom Glitzerfummel bis zur Hochsteckfrisur perfekt aufgerüscht. Pohl ringt mit einem Lampenschirm. Hartmann kämpft beim Kniegang mit Einblicken in ihr ultraknappes Kleid. Und ein schlecht gelaunter Thomas Niehaus in Lederhose und Cowboyboots, vergisst den Fahrradhelm auf dem Kopf.

Der Clou an dieser Versammlung? Alles vollzieht sich stumm. Und langsam. Jeder Darsteller holt wie ein galanter Taschenspieler sein Repertoire an Nuancen raus. Hier zuckt ein Gesichtsmuskel, dort fleht ein Seitenblick um Rettung. Die Mimik erzählt kleine und große Geschichten von Sehnsüchten, letztlich ja nach jenem Aufgehen in Gemeinschaft und dem Glücksversprechen des neuen Jahres, das man zu Silvester so gerne sucht. Ironisch zwar, aber doch zart.

Richtig Fahrt nimmt der Abend auf, als die Instrumente auf den Tisch kommen. Akkordeon, Tuba, Geige, Klavichord, Glockenspiel, Trommel. Nie zuvor hat man die einschlägigen Eurodiscohits der 1990er-Jahre so apart im Balkan-Folklore-Mix präsentiert bekommen. Etwa die Unsinnszeilen in "Rhythm is a dancer" von Snap!. Hartmann erweist sich als stimmgewaltige Multiinstrumentalistin, die auch mal ein versautes Gedicht präsentiert.

Die Runde hat offenbar das Silvesterereignis verpennt und feiert nun in einer Dauerschleife. Hockt angeödet vor "Dinner for one" und brüllt vor Lachen bei der Neujahrsansprache des amtierenden Kanzlers Helmut Kohl. Über die Radioanlage dringen schlimme Errungenschaften postmoderner Unterhaltung in die Spießeridylle. Werbung über Fettschnitten, Erika Bergers Sex-Tipps, säuselndes Bemühen um Transzendenz. Weitere dem Vergessen und der Verdrängung entrissene Hits erklingen. Faithless' "Insomnia" wirkt in seiner Düsternis mit einem grandios in seine Tuba brummenden Niehaus.

Die Gesellschaft entgleist. Bier wird zu Kaffee gereicht. Unterhosen werden verglichen und Berliner mit Senf verzehrt. Ekstatischer in ihrer Entschleunigung kann man sich wohl eine Party am Abgrund vor der Jahrtausendwende nicht vorstellen. Auch nicht nach der Jahrtausendwende. Diese "Festzeitstory" hat das Zeug zum Dauerbrenner.

"Festzeitstory" nächste Vorstellung 1.5., 19.00, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de

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