Die Wiener Schriftstellerin Eva Menasse stellt im Hamburger Literaturhaus ihren neuen Roman “Quasikristalle“ vor

Literaturhaus. Für Judith ist sie eine Freundin, mit der in einem langen Jugendsommer die ersten Zigaretten geteilt wurden. Für den Vermieter Tschoch ist sie eine "entzückend beschädigte" Person, die nackt auf ihrem Balkon sonnenbadete. Für Martin wiederum ist sie die Agenturchefin, deren Anarchismus er einst bewunderte und schließlich daran scheiterte.

Insgesamt 13 Perspektiven entwirft die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse, um sich dieser Xane Molin, Hauptfigur ihres zweiten Romans "Quasikristalle", anzunähern. Die Leser lernen die Frau vom Teenager bis zur Großmutter kennen. Doch was heißt schon kennenlernen? Bruchstücke einer Biografie werden da so subtil ausgestellt, dass bei der Lektüre unweigerlich Fragen auftreten. Wie begegnen sich Menschen? Auf welcher Grundlage bewerten sie einander? Wie verändern sich diese Urteile? Und was bewegt uns, jemandem verbunden zu bleiben? Reicht es bereits, wenn ein Mädchen zum anderen am ersten Schultag einen besonders schönen Satz sagt? Etwa, dass die Haare "wie rote Zuckerwatte" aussehen.

Ihr Buch, das Menasse am heutigen Dienstag im Literaturhaus vorstellt, ist nach einem jüngst entdeckten, wissenschaftlichen Phänomen benannt. Nach Kristallen, die keine symmetrische, sondern eine scheinbar ungeordnete Struktur besitzen. Ein schillerndes Ganzes, das nicht nach einem klaren System gegliedert zu sein scheint. Eine hübsche Metapher für die menschliche Existenz mit all ihren Zufällen, verpassten Chancen und unkalkulierbaren Glücksmomenten.

Was beim Lesen dieser fein komponierten Geschichte fasziniert, ist das Spiel zwischen Nähe und Distanz. Nelson, einem einflussreichen Mann am Strafgerichtshof in Den Haag, begegnet Xane nur wenige Male. Und doch durchzieht die Treffen, die aus der Sicht des Verliebten geschildert sind, eine Intimität, die in Xanes gut geölter Professoren-Ehe nicht zu existieren scheint.

"Die Lebensmitte ist sicher und berechenbar wie eine ungestaffelte Warmmiete", führt diese mehrfach gebrochene Heldin in jenem Kapitel aus, das aus ihrem Blickwinkel erzählt wird. Und das nicht nur Höhen und Tiefen verhandelt, sondern vor allem jene Frustrationen, die sich langsam einschleichen. Etwa, wenn Xane beschreibt, wie das "Sinngerüst zusammenbricht", wenn die Kinder groß sind: "Man ist endlich wieder schlank, aber zu welchem Preis. Die nächsten Jahre liegen blank vor einem, anheimelnd wie eine Mondlandschaft."

Derart rau geschliffene Sätze wirken wie Kalenderweisheiten für den postmodernen Menschen, der sich zwischen Patchwork-Familie, Freunden in diversen Städten, Karriere und Interessen verausgabt. Und der, wie in einer anderen Episode über Xane zu erahnen ist, in die Klinik muss, wenn das Lebenskonstrukt nicht so stabil ist, wie es der eigene Ehrgeiz versprach.

Zugleich schimmern in "Quasikristalle" immer wieder rote Fäden durch, die dem Dasein Beständigkeit verleihen. Allen voran die Herkunft ist solch ein konstanter Faktor. Xane, die in Wien aufwuchs, lobt während ihrer langen Berliner Jahre zwar die "Piefkes", sucht aber immer wieder Kontakt zu ihren Landsleuten, um im Alter schließlich nach Österreich zurückzukehren. Und auch ihre jüdischen Wurzeln werden zum Lebensthema. Dass Menasse, die 1970 in Wien geboren wurde, diesen thematischen Pfad einschlägt, verwundert nicht. Denn die Journalistin, die unter anderem als Kulturredakteurin bei der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" arbeitete, begleitete im Jahr 2000 den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving. Aspekte wie die Scham der Nachgeborenen webt sie in "Quasikristalle" ohne belehrenden Unterton ein und wechselt mitunter blitzschnell zu einer flirtähnlichen Leichtigkeit, die nur allzu gut darstellt, wie Gefühle gleichzeitig aktiv sind und eben nicht moralisch einwandfrei aufgereiht.

Der Wechsel von Ebenen und Andeutungen, den die Autorin praktiziert, mag man ihr als literarische Taschenspielertricks auslegen. Doch im Fall von "Quasikristalle" lässt sich sagen: eine gute Show! Denn all das, was der Leser nicht oder erst später erfährt, was er sich nach und nach zusammenreimen muss, all die Richtungen, in die er zunächst falsch gedacht haben mag, sind wahrhaftiger als das Auserzählte, das auf dem Tablett Servierte. Ob Xane nun wissbegierige Patientin bei einer hoch beschäftigten Kinderwunschärztin ist oder ein "Ökonazi von Stiefmutter": Der Leser taucht ein in diese Leben der anderen. Und Episode für Episode macht Eva Menasse die blinden Flecken erlebbar, die jeder im Umgang mit diesen anderen besitzt. Das ist spannend.

Lesung Eva Menasse Di 5.3., 19.30, Literaturhaus (Bus 6, 172, 173), Schwanenwik 38, Eintritt: 10,-/8,-/6,-; Infos unter: www.literaturhaus-hamburg.de