Annika Scheffel und Saskia Hennig von Lange lesen aus ihren neuen Büchern

Altona. Am Schwanenwik, an der schönen Alster, steht das Literaturhaus. Fest und stolz, was nicht heißt, dass es nicht beweglich ist, wenn es darum geht, ein Ort für Bücher zu sein. "Schwanenwik goes Schulterblatt" heißt ein Programm der Uhlenhorster, in dem sie ihre Kernkompetenz ins Haus III&70 verlegen: den Hamburgern gute Literatur vorzustellen.

In der zweiten Ausgabe der Schanzenlesung treten zwei jüngere Autorinnen auf, die sich auf die Beweglichkeit der Sprache verstehen, die im Reich der Fantasie ihr eigentliches Zuhause hat: Saskia Hennig von Lange und Annika Scheffel. Beide veröffentlichen dieser Tage neue Bücher. Für die 1976 geborene Saskia Hennig von Lange (ihre Schwägerin ist die Autorin Alexa Hennig von Lange) ist die Novelle "Alles, was draußen ist" (Jung und Jung) sogar ihr literarisches Debüt. Es spielt ausschließlich in einem Anatomischen Museum, und seine Hauptperson ist ein Wärter, der über die vielen Jahre in dem Ausstellungshaus selbst zum Exponat geworden ist und mittlerweile zum Inventar gehört.

"Alles, was draußen ist", ist weit weg; so spielt sich das Leben des Mannes nur im Inneren ab. So entsteht eine Traumwelt, ein dauerhafter Innenblick, ein kleines, eigenes Universum, in dem sich einer selbst genug ist - oder eben nicht. Annika Scheffels zweiter Roman "Bevor alles verschwindet" (Suhrkamp) ist auch so ein Werk des Selbstgenügens. Und außerdem das vielleicht traurigste Buch der jüngeren Vergangenheit. Es erzählt die Geschichte eines Dorfes, dessen letztes Stündlein bald geschlagen hat. Ausgerechnet im Jahr seines 100. Geburtstags soll es, das idyllisch in einem Tal liegt, geflutet werden, um aus der Gegend ein Erholungsgebiet zu machen. Plitschplatsch, Wasser ins Tal, Dorf weg.

Und mit ihm die wenigen Insignien der Behaglichkeit, die paar Dinge, die es fürs Zusammenleben braucht: eine Kirche, ein Rathaus, eine Kneipe, einen Kindergarten und Häuser, in denen Menschen leben. Der nächstgrößere Ort liegt oben, vielleicht eine halbe Stunde Wegstrecke entfernt. Aber kaum je findet eine von Scheffels Figuren, die Namen tragen wie Jules, Milo oder Greta, den Weg aus dem Dorf. Klingt klaustrophobisch? Jawohl.

In ihrer Beschränkung auf den eng bemessenen Handlungsraum ähneln sich die Bücher Hennig von Langes und Scheffels - eine gute Auswahl der Veranstalter also. Aber man muss sich als Leser (und Zuhörer) auf den Beat von "Bevor alles verschwindet" einlassen, um die Schönheit des Romans zu erfahren. Die Menschen arrangieren sich mit dem Abschied und kämpfen doch gegen ihn an. Ein Haus nach dem anderem wird von "den Verantwortlichen" gesprengt, wie die Abrissprofis und Landschaftsplaner beharrlich genannt werden. Die Hauptfiguren sind freilich die Dörfler: die Zwillinge Jules und Jula Salamander, der brachiale Bürgermeister Wacho, sein lebensunfähiger Sohn David, das kluge Mädchen Marie, der Hobby-Schauspieler Robert. Von ihnen wird erzählt, als befände sich der Ort des Geschehens bereits unter Wasser: Sie bewegen sich bisweilen wie in Zeitlupe. Als würden sie ständig gegen Widerstände rennen, die nicht zu sehen sind.

In "Bevor alles verschwindet", das eine sowohl magische, als auch morbide Anmutung hat, tauchen Kreaturen auf, die nicht für alle zu sehen sind: Füchse, blasse Knaben, längst Verstorbene. Viele Akte in dieser Abschiedsvorstellung sind skurril, gar grotesk - Annika Scheffels Prosa trägt märchenhafte, übersinnliche Züge und entwickelt eben deshalb den Sog, den ein gutes Buch braucht. Nicht jeder Satz in diesem Zweitwerk sitzt; die Erwartungen, die Scheffel mit ihrem von der Kritik gepriesenen Debüt "Ben" geweckt hat, erfüllt sie trotzdem beinah schlafwandlerisch. Letzteres übrigens eine Vokabel, die ebenfalls gut auf "Bevor alles verschwindet" passt, diese Parabel über den Rückzug von der großen Welt, den Abschied und den Neuanfang.

"Schwanenwik goes Schulterblatt" mit Annika Scheffel u. Saskia Hennig von Lange, Mod.: Antje Flemming, Di 26.2., 19.00, Haus III&70 (U/S Sternschanze), Schulterblatt 73, Eintr. 8,-/6,-/4,-