Dimiter Gotscheffs Heiner-Müller-Ehrung “Leeres Theater“ im Thalia Gaußstraße gelingt als anspruchsvolles Gedankentheater

Hamburg. Am Anfang ist das Theater leer. Nein, nicht ganz. Auf einem langen Arbeitstisch stapeln sich Bücher und anderes Material. Barbara Nüsse errichtet eine Miniatur des Brandenburger Tors aus Pappe und jagt ein Tischfeuerwerk in die Luft. In die Jubelgesänge der Wende konnte einer nicht ganz einstimmen. Heiner Müller kam mit der Mauer auch die Wirkungsmacht seiner Literatur abhanden. Er verspürte das als Qual und es fehlten ihm buchstäblich die Worte für weitere Tragödien.

Begann nach der Nivellierung des Konfliktes der Systeme zwischen Ost und West tatsächlich die eigentliche, die "Tragödie des Menschen"? Dimiter Gotscheff macht diese von Müller aufgeworfene Frage in seinem Abend "Leeres Theater" selbst zum Thema. "Das Wesentliche am Theater ist die Verwandlung. Das Sterben. (...) Und das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potenziell Sterbenden."

Überwiegend späte Müller-Texte montiert Gotscheff für die Uraufführung im Thalia in der Gaußstraße zu einer erstaunlich spielfreudigen Collage. Die große Barbara Nüsse darf zunächst eine halbe Stunde lang "Mommsens Block" rezitieren. Denn auch dem großen Historiker Theodor Mommsen wurde das leere Blatt Papier zum Feind, als ihm das vierte Kapitel der "Römischen Geschichte" über den Verfall der Cäsaren nicht recht aus der Feder floss. Es gibt wenig Gruppenszenen. Dafür hat hier jeder der Thalia-Stars dieser vorzüglichen Besetzung seinen Soloauftritt. Und so unterschiedlich sie sind, sehenswert sind sie alle.

Alexander Simon schleppt eine Palme herein und mimt mit kafkaesker Verstörung den "Mann im Fahrstuhl" aus dem "Auftrag", der sich plötzlich auf einer Straße in Peru wiederfindet. "Mir wird klar, dass schon lange etwas nicht gestimmt hat: mit meiner Uhr, mit diesem Fahrstuhl, mit der Zeit. Ich verfalle auf wilde Spekulationen: Die Schwerkraft lässt nach, eine Störung, eine Art Stottern der Erdrotation, wie ein Wadenkrampf beim Fußball." Oda Thormeyer spricht die "Todesanzeige", die Müller anlässlich des Todes seiner Frau herausgab. Marina Galic gibt verschiedene Frauenpartien der "Hamletmaschine" zum Besten und tritt als "Engel der Verzweiflung" auf in Anlehnung an jenen Todesboten Walter Benjamins, eingekeilt zwischen Katastrophenvergangenheit und Zukunftsstau. Sebastian Rudolph gibt mit eindrucksvoller Expressivität in "Ajax zum Beispiel" Versen mithilfe verschobener Betonung eine neue Bedeutung. Den Abschluss liefert Patrycia Ziolkowska, den Arm voll Manuskripte, mit "Herakles 2".

Es könnte sein, dass Dimiter Gotscheff mit seiner Kompromisslosigkeit, diesem konsequenten Verweigern jeder Anbiederung an sein Publikum der wahre Avantgardist des Theaters ist. Er propagiert ein Gedankentheater, das sich mit den Mitteln des Spiels gegen den monströsen Steinbruch des Müller-Textes behauptet und ihm in dieser Klassenzimmer-Versuchsanordnung Raum zum Atmen lässt. Gegen das Disparate der Textfragmente als Syndrom des Systems stemmt sich die Sehnsucht nach einem Zusammenhang.

Bei aller Düsternis der Themen Müllers: Tod als Gegenstand bürgerlicher Verdrängung in Zeiten des Kapitalismus, Fragwürdigkeit der Herrscherfiguren und Frage nach der utopischen Kraft des Theaters - Gotscheff und seinem Team gelingen wunderbar leichte, gauklerische Momente. Ein Theaterabend, wie es ihn selten gibt, der Lust auf die ernsthafte Auseinandersetzung mit einem Autor und seinen Themen weckt, die mit der Wende nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben.

"Leeres Theater": weitere Vorstellungen 9.4., 20.00, 24.3., 19.00, Thalia Gaußstraße, Gaußstraße 190; www.thalia-theater.de

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