Erinnerungen an eine hexenbegeisterte Kindheit

Als mir meine Großeltern "Die kleine Hexe" zum Geburtstag schenkten, ahnten sie wahrscheinlich nicht, wie zielgenau das Buch meine Befindlichkeit traf. Zwar war ich erst acht Jahre alt und nicht 127 wie die kleine Hexe, aber auch angeblich für alles zu jung (und lesen Sie mal meinen Familiennamen). Nach 20 Uhr aufbleiben, im Bett lesen, Krimis im Fernsehen gucken, Ponyreiten, Pfadfinderlager: "Das darfst du machen, wenn du älter bist", meinten meine Eltern.

Die Lage verkomplizierte sich insofern, als ich keinen sprechenden Raben Abraxas zur Verfügung hatte, um die Sache zu diskutieren, sondern nur einen schweigsamen Hamster namens Muppi, der tagsüber immer schlief und sich bei abendlichen Aktivitätsschüben auch nicht äußerte.

Natürlich interessierte ich mich brennend für Magie. Ich wäre liebend gern geflogen, hätte gerne ein eigenes Hexenhaus gehabt und Tiere gerettet. Ich wusste auch schon, welche Mitschüler ich auf den Mond hexen würde und welcher Lehrerin die Klassenarbeiten verloren gehen müssten.

Die Lebensaufgabe "Räum dein Zimmer auf" würde nur noch Sekunden dauern. Über die böse Muhme Rumpumpel (schon das Wort Muhme klingt bedrohlich), die sich der kleinen Hexe mit fiesem Mobbing dauernd in den Weg stellt, war ich absolut empört. Es gibt nichts Schlimmeres, als nicht dazugehören zu dürfen, nicht am gemeinsamen Spaß teilzuhaben. Deshalb fand ich es einerseits genial, dass die kleine Hexe ihren unsolidarischen Kolleginnen die Zauberbücher und Hexenbesen verbrennt, aber andererseits bezahlt sie auch einen hohen Preis für ihre Selbstbefreiung. Denn in meinen Augen war es doch schade, die letzte und einzige Hexe der Welt zu sein. Die Muhme Rumpumpel war für mich der Inbegriff des Machtmissbrauchs und der Spielverderberin. Dem Typus Rumpumpel bin ich im späteren Leben immer mal begegnet, aber er war durchschaubar geworden.

"Die kleine Hexe", erschienen 1957, hat 41 Jahre vor Harry Potter (1998) Kinder darin bestärkt, eine eigene Haltung zu haben. Ohne sie hätte es keine Theoriebildung in meinem Kinderzimmer gegeben, kein Freund/Feind-Bild, keine ausufernden magischen Fantasieausflüge, keine gesunde Skepsis gegenüber "Oberhexen" jeglichen Geschlechts. Was hätte ich eigentlich ohne die kleine Hexe gemacht?