Dirigent Marcus Creed trieb den NDR Chor auf Champions-League-Niveau

Hamburg. Es gibt ausgewiesene Kenner der Szene, die behaupten, Marcus Creed sei der beste Chordirigent der Gegenwart. Bei solchen Bewertungen ist natürlich immer allerhöchste Vorsicht geboten, schon klar. Aber nach seinem Auftritt in der prall gefüllten Hauptkirche St. Nikolai möchte man sie gern unterschreiben. Welche Vielfalt an Farbschattierungen der 61-jährige Brite da mit dem blendend aufgelegten NDR Chor zauberte, wie er mit seinen organisch kreisenden Bewegungen die Musik im Fluss hielt und große Spannungsbögen formte, das war, wenigstens stellenweise, weltklasseverdächtig.

Das Konzert unter dem Motto "Tenebrae" - von Elbphilharmonie-Intendant Christoph Lieben-Seutter geschickt in sein Festival "Lux aeterna" eingemeindet - bündelte Passionswerke aus verschiedenen Epochen zu einem anspruchsvollen A-cappella-Programm. In der ersten Hälfte verzahnte Creed vier Poulenc-Motetten mit textgleichen Werken von Gesualdo, eine geniale Idee. Weil beim direkten Vergleich einerseits die stilistischen Unterschiede, andererseits aber auch die verblüffenden Gemeinsamkeiten der beiden Komponisten zutage treten. Wenn sie etwa den Klang zu expressiven Akkorden auffächern und dann durch Halbtonrückungen umfärben, wirken die beiden über eine Entfernung von 350 Jahren plötzlich wie Brüder im Geiste.

Der NDR Chor leuchtete diese kunstvoll geschichteten Harmonien mit opulenter Strahlkraft aus, ohne dafür die eher schlanke und über weite Strecken blitzsaubere Tongebung aufzugeben.

Nach der Pause, in den Brahms-Motetten op. 110, bestach das Ensemble nicht zuletzt durch seine natürliche und genau deshalb so gut verständliche Textgestaltung - inspiriert von einem Dirigenten, der fast jedes Wort mitsprach und dabei mitunter auch hörbar mitgrummelte.

Marcus Creed ist selber ein guter Sänger, er weiß genau, wie die menschliche Stimme funktioniert. Diese Erfahrung spiegelt sich in seiner Körpersprache, wenn er Phrasen erblühen lässt und mit seinen Kollegen atmet. Er "schlägt" den Takt nicht mit harten Gesten - was den Choristen sofort den Kehlkopf zuschnüren würde -, sondern dirigiert meist mit nach vorne geöffneten Handflächen, die den Sänger eher einladen als maßregeln. So modelliert er einen warmen, homogenen und runden Klang, selbst wenn die Musik an die Grenzen der menschlichen Stimme führt, wie die 2006 entstandenen Tenebrae-Responsorien von James MacMillan.

Der schottische Komponist vertont die Passionstexte mit einer Klangsprache von beklemmender Intensität. Er kontrastiert gellende "Jesum"-Rufe mit dem Wispern der Schriftgelehrten und Pharisäer, er konfrontiert das grabesschwarze Brummen der Bässe mit schwindelerregenden Sopranlinien. Die 30 Sänger des NDR Chores meisterten diese Herausforderungen souverän und präsentierten dabei ein gewaltiges Spektrum von orchestraler Wucht bis zum zerbrechlich zarten Pianissimo. Von solchen Klängen können die meisten Chorleiter und -sänger nur träumen. Aber das tun sie gern.