Der Graf und seine Band machen den Tourauftakt in der ausverkauften Hamburger O2 World zu einem großen Familienfest.

Hamburg. "Das war wie in Wacken, nur dass das Publikum da nicht besoffen ist", erzählte uns der Graf vor einem Jahr lachend über seinen Auftritt in der Schlagersendung "Willkommen bei Carmen Nebel". Das war eine der Zäsuren in der langen, im Jahr 2000 gestarteten Karriere des Grafen und seiner Band Unheilig. Ein Zeitpunkt, als sich auch die letzten Fans aus alten Tagen in der "Schwarzen Szene", der dunkelbunten Gemeinde der Gothic-Rock- und Metal-Hörer abwandten. Der Graf hat das nie verstanden: "Man darf doch Menschen nicht katalogisieren."

Der Aachener Sänger trägt jedenfalls keine Scheuklappen, Toleranz ist für ihn verpflichtend. Und so hat er mit den Nummer-eins-Alben "Große Freiheit" (2010) und "Lichter der Stadt" (2012) vielleicht viele alte Anhänger verloren, aber umso mehr neue gewonnen. 12.000 kommen am Sonnabend zum Auftakt der "Lichter der Stadt II - Letzter Halt"-Tournee in die offiziell ausverkaufte Hamburger O2 World. Ein Querschnitt durch alle Schichten, Altersgruppen, Stadtteile und Vororte. Seniorenpärchen tanzen zu "Lili Marleen" vom Band, Schulkinder und ihre Eltern schunkeln zu "Auf der Reeperbahn nachts um halb eins". Gemeinsam zählen sie den Countdown zum Konzertbeginn herunter. Familienfest.

"Herzlich willkommen", ruft der Graf, als er mit "Herzwerk" vor die Dekoration tritt, die an die frühe Star-Club-Bühne erinnert. Die Skyline einer anonymen Metropole nimmt das Thema "Lichter der Stadt" auf. Diese Lichter sind glänzende Augen, die das Blitzgewitter bei "Feuerengel" und "Winterland" spiegeln. Die Band rockt kräftig drauflos und klingt ein wenig wie "Rammstein aus der Bontempi-Orgel" ("FAZ"). Fans schwenken bunte LED-Sträußchen wie bei Pur. Zwar reißt Unheilig die Ränge noch nicht aus den Sitzen, aber von absoluter Hingabe ist schon viel zu spüren, spätestens als die 12.000 zwischen "Ein großes Leben" und "Auf ewig" einen großen, spontanen Choral bilden: "So was hat man lange nicht geseh'n, so schön, so schön."

Schönheit liegt im Auge und Ohr des Betrachters und des Zuhörers. Der Kontrast aus stampfender "Eisenmann"-Härte und den die Kitschgrenze mit Verve überschreitenden Diddl-Maus-Geburtstagskartentexten ist sicher nicht jedermanns Sache: "Ich wünsche mir, wenn du zu den Sternen siehst, dass du dich einmal an mich erinnerst, weil du für immer mein Stern bist." Doch die Fans lieben die direkte, unmissverständliche Ansprache ans Herz. Eine Handvoll Feuerzeuge leuchtet neben ungezählten Handybildschirmen bei "Mein Stern" auf. "Ah, die einsamen Raucher", freut sich der Graf. Aber wer ist schon einsam hier, wo zusammen "unsere beste Zeit" verschwendet wird.

"Der Alltag fliegt vorbei", zwischendurch macht der Graf Päuschen hinter der Bühne, während auf den Videoleinwänden Kurzfilme eingeblendet werden, in denen er zum Beispiel am Strand eine Rose aus dem Koffer holt und auf das Watt legt. "Geboren, um zu leben", noch so ein kollektiver Choral, genau wie "Große Freiheit", das mit Hamburg-Postkartenmotiven begleitet wird. Das ist so was von nicht mehr Wacken.

Dabei wird natürlich auch getrunken, aber viel ist nicht los an den Getränkeständen, die meisten Besucher wollen keine der 120 Minuten verpassen, auch nicht die letzte Zugabe "Stark": "Die Frage nach dem Sinn der Zeit stellen wir uns, doch die Frage bleibt." Ja, da ist schon was dran. Aber da verbeugen sich der Graf und Unheilig schon zum Abschied. Alles drängt zum Fanartikelstand. Nur eine Frau eilt vorbei, sie hat ja schon das ultimative Souvenir. "Geboren um zu leben" steht auf ihrem Rücken unter dem Unheilig-Bandlogo. Nicht als T-Shirt-Aufdruck, sondern als Tattoo. Auf ewig.