Boriana Dimitrova erneuert Osteuropas Musik mit “Carousel“

Hamburg. Man kann sich schwindlig hören an dieser einen kleinen rhythmischen Figur, an ihrem eigenartigen Dreh. Dreimal drei Achtel, zweimal zwei Achtel. Macht zusammen 13 Achtel. Die spielt der Bass, stoisch. Sanft verzerrt, zirpt die Gitarre darüber gemächlich verschlungene, in Echoräume zerdehnte Melodielinien. Mit Filzschlägeln bringt der Schlagzeuger die Becken zum Rauschen und raunt wie von fern geheimnisvolle Wirbel auf die Trommelfelle. Dann schaltet sich die Chefin auf dem näselig klingenden Sopransaxofon ein und entspinnt über einem neuen, ähnlich fein verschachtelten rhythmischen Boden, für dessen Vermessung jeder der Begleiter einen anderen Notenwert als Bezugsgröße zugrunde legt, ihre eigene, engräumige Vertigo-Melodie. "Carousel", das Titelstück des zweiten Albums des Boriana Dimitrova Quartetts, trägt seinen Namen zu Recht; es kreist in einem ungewöhnlichen Drehmoment um sich selbst. Und dem Mitfahrenden bietet es eine abwechslungsreiche Aussicht ins weite Feld der improvisierten Musik.

Eine der gegenwärtig reizvollsten Varianten des zeitgenössischen Jazz macht die Musik Osteuropas zum Ausgangs- oder Referenzpunkt ihrer Ausflüge in die Improvisation. Gruppen wie Grünes Blatt, East Drive, Eyot oder die Sängerin Elina Duni bringen Facetten rumänischer, ukrainischer, serbischer oder albanischer Folklore ins Spiel, doch dieses Spiel wird eindeutig nach den Regeln des Jazz gespielt. Die Bulgarin Boriana Dimitrova leistet ihren Beitrag zur Erneuerung balkanischer Musik von Hamburg aus. Hier lebt sie, seit sie Ende der 90er-Jahre als diplomierte Saxofonistin - die erste Frau mit einem entsprechenden Examen in Bulgarien überhaupt - Sofia verließ und zu weiterführenden Studien in den Westen ging. Boriana Dimitrova hat an der hiesigen Hochschule bei Fiete Felsch Saxofon studiert. Und als sie damit fertig war, hängte sie noch ein Studium in Jazz-Komposition und -Arrangement an der Hochschule Mannheim dran.

"Carousel" ist ähnlich dicht gearbeitet wie ihr Debüt "Balkan Blues" (2009), das anstelle des Gitarristen noch einem Pianisten die harmonische Verdichtung der Musik übertrug. Die Gitarre verschiebt das Klangbild etwas stärker in Richtung Jazzrock, wobei Lars Dahlke sein Instrument ohne den genreüblichen Apparat an Effektgeräten benutzt. Ein sympathisch klingender Purist, deutlich geprägt von jazzgitarristischer Sophistication à la John Scofield. Der technisch überragende, ungemein präzis spielende Jakob Dreyer zupft neben dem Kontrabass auch den bundlosen E-Bass, dessen Rolle er im Geiste des Großmeisters Jaco Pastorius begreift. Zusammen mit dem Schlagzeuger Niels-Henrik Heinsohn bildet er ein tightes Rhythmusgespann, das sich in all den krummtaktigen Grooves, mit denen Boriana Dimitrova ihre Musik unterlegt, als ebenso sattelfest erweist wie in den geradeaus geknüppelten Funk-Licks.

Die Neigung der Bandleaderin zur Fusion erscheint als typisches Merkmal des osteuropäischen Virtuosen-Jazz, ist jedoch keineswegs die stärkste Zutat ihrer Musik. Vielmehr wünscht man sich, sie ginge noch konsequenter auf die Suche nach der eigenen Stimme, nach dem, was unverwechselbar werden kann an ihrer Musik. Auch ein Stück wie "Introspection" wirkt eher wie eine Stilübung in Vielseitigkeit. Dass sie sich in allerlei Spielarten des Jazz auszudrücken vermag, hat Boriana Dimitrova hinlänglich gezeigt. Man hört ihr desto lieber zu, je mehr sie ihre eigene Geschichte erzählt. So sind auf "Carousel" die besten Stücke jene, in denen das Balkanische mit seiner harschen, sehnsuchtsvollen Tonaliät und seiner rhythmischen Querständigkeit durch die Normierungen jazzgerechter Übereinkünfte hindurch sprießt wie das Gras durch den Stein.

Boriana Dimitrova Quartett: "Carousel" (Laika)