Orchestermusiker sind Individualisten mit der Verpflichtung zum Gruppenmenschen. Eine kleine Typologie eines großartigen Sozialverbands.

Hamburg. Es klingt wie ein Schildbürgerstreich. Da ziehen 16 Geiger eines städtischen Sinfonieorchesters vors Arbeitsgericht und klagen auf Gleichbehandlung mit den Bläsern. Begründung: Sie müssten bei gleicher Bezahlung mehr spielen als die Herren Trompeter oder Oboisten. So geschehen zu Bonn vor einigen Jahren. Die örtlichen Kulturverantwortlichen waren entsetzt, die internationale Musikszene feixte.

Das Anliegen der geigenden Gerechtigkeitsfanatiker erscheint auf den ersten Blick absurd. Doch zugleich gewährt es Einblick in die Abgründe eines Gebildes, das sich sonst auf der Bühne in allerbester Harmonie präsentiert. Neid, Ressentiments, Minderwertigkeitskomplexe, solche Regungen sind Realität, ganz unabhängig von der Frage, wer nun im juristischen Sinne recht hat. Sie kommen nicht nur im Bonner Beethoven-Orchester vor, sondern in jedem Orchester der Welt. Und wenn man ehrlich ist, vermutlich in jedem Gemeinwesen auf diesem Erdball.

Nur gibt es nicht viele Gemeinwesen, die ähnlich komplex funktionieren. Ein Sinfonieorchester hat, je nach Tarifstufe, 80 bis 140 Mitglieder zwischen 21 und 65 Jahren: Frauen und Männer, Familienmenschen und Alleinstehende, Genießer und Asketen. Und die haben sich alle lieb, nur weil sie zusammen schöne Klänge produzieren?

Natürlich nicht. "Neben jemandem zu sitzen, den man nicht mag, das kann eine Katastrophe sein", sagt Constantin Ribbentrop vom NDR Sinfonieorchester. Und sein Kollege Boris Bachmann ergänzt: "Richtig interessant wird's, wenn zwei Profilneurotiker aufeinanderstoßen." Die beiden sitzen in einer Probenpause in der Kantine der Laeiszhalle - schon dass sie zusammen am Tisch sitzen, ist eine Erwähnung wert. Ribbentrop ist nämlich Trompeter und Bachmann Geiger, sie gehören also Gruppen an, die nach überbrachter Orchesterdenke wenig miteinander zu tun haben.

Überhaupt die ganzen Klischees, die so ein Orchester umwabern! Der bekannteste Gemeinplatz ist wohl der vom Bratscher als dem Ostfriesen des Orchesters, dokumentiert in Witzen wie diesem: Warum kaufen Bratscher nie Papiertaschentücher bei Aldi? Weil da "Solo" draufsteht. Und warum sollten sie nur das Original kaufen? Dann hätten sie endlich mal das richtige Tempo. Höhö.

Auch andere Musiker haben ihren Stempel weg. Der Konzertmeister gilt als eitler Star. Die Klarinettisten kriegen nichts mit, weil sie sich andauernd unterhalten, Oboisten werden dumm vom Druck auf den Kopf, Blechbläser sind immer zu laut.

Das sind hanebüchene Verallgemeinerungen, klar. Fragt man Orchestermusiker nach solchen Vorurteilen, dann winken sie ab. "Die haben doch eher die Dirigenten als die Kollegen", sagt Peter Hubert, stellvertretender Solokontrabassist der Philharmoniker Hamburg. Aber dann fügt er hinzu: "Wir fühlen uns schon manchmal übergangen. Zum Beispiel wenn im Fernsehen mal wieder die Bässe als Einzige nicht im Bild sind." - "Ihr nehmt einfach zu viel Platz weg", wirft sein Kollege Thomas Rohde ein, der Solooboist des Orchesters. "Das kann nur ein Bläser sagen!", flachst Hubert zurück. Da ist es wieder, das Klischee. Und sei es nur im Scherz.

Ein wahrer Kern ist eben doch dabei. So ganz fern liegt es nicht, wenn die Streicher argwöhnen, Bläser hielten sich für was Besseres. Die Bläserstimmen sind einfach besetzt, deshalb spielt jeder Bläser tagein, tagaus auf dem Präsentierteller. Verstecken gilt nicht. Dazu braucht es noch stärkere Nerven als im Streichertutti, noch unfehlbareres Können - und das entsprechende Ego.

Noch dazu sind die Mentalitäten oft unterschiedlich. Wer sich in einem Blasorchester auf Weinfesten die Sporen verdient, hat nun einmal einen anderen Zugang zur Musik und vermutlich auch einen anderen familiären Hintergrund als jemand, dessen Eltern ihn von klein auf zu Streichquartettkonzerten schleppen. Doch das sind beileibe nicht die einzigen Gräben. Es kann nicht ohne Reibungen abgehen, wenn Dutzende von Individuen auf engstem Raum und in feinster Abstimmung dasselbe tun sollen. "Da gibt es angestammte Rollen", sagt Thorsten Stepath, der Orchesterdirektor der Philharmoniker. "So ein Orchester hat manchmal schon etwas von einer Schulklasse."

Ohne Fraktionszwang geht es jedenfalls nicht ab. Das fängt bei der Kleiderordnung an. Die Orchester - Selbstverwaltung wird hochgehalten in der deutschen Orchesterlandschaft - regeln darin so wichtige Dinge wie die Ärmellänge des Konzertkleids und den Zustand der Absätze. Bei Bedarf spricht die zuständige Kommission schon mal ein Krawattenverbot aus.

Andere Dinge greifen tiefer ins künstlerische Selbstverständnis ein. Ein Orchestermusiker, ein Tuttist zumal, muss sein Berufsleben lang ausführen, was jemand anders ihm vorschreibt: der Stimmführer, der Dirigent, der Solist. Dabei sind die meisten Musiker einmal unter anderen Vorzeichen angetreten: Nach wie vor orientiert sich die Ausbildung an den Musikhochschulen am Ideal des Solisten. Und der braucht nun einmal ganz andere Tugenden. Er muss sich als Persönlichkeit profilieren und das Stehvermögen haben, notfalls auch mal gegen einen Dirigenten oder ein Orchester zu spielen. Im Verhältnis zum Orchester hat der Solist a priori recht, schließlich ist das Orchester dazu da, seine Gestaltung mitzumachen.

Das hat ein junger, begabter Musiker also jahrelang verinnerlicht, er hat geübt wie ein Teufel, den Probespielzirkus durchgestanden und schließlich eine Stelle ergattert. Nur kehren sich die Vorzeichen ab dem ersten Arbeitstag glatt um. Jetzt gehört er zu denen, die begleiten und sich anpassen müssen. Wenn man einen Geiger aus einer Gruppe heraushört, ist das ein Manko. Es geht um wesentlich mehr Aspekte als um die schlichte Tonhöhe und Tondauer. Die Musiker müssen sich auch in der Lautstärke, Klangfarbe und Phrasierung einigen, um nur einige zu nennen; an sehr leisen Stellen hören sich die einzelnen Spieler manchmal selbst nicht mehr. Aber dann sollen sie, bitte schön, auch noch mit innerer Beteiligung spielen. Weil das Publikum nämlich sofort spürt, wenn sie das nicht tun.

Gehirnwäsche auf der Konzertbühne? Ob das beständige Unterordnen auf Dauer zu Magenkneifen oder Zynismus führt, hängt, wie so vieles im Leben, auch von der eigenen Einstellung ab. "Wer sich nicht bewusst macht, worauf er sich einlässt, der hat den Beruf verfehlt", sagt Matthias Perl, Soloflötist des NDR Sinfonieorchesters.

Teamgeist ist unabdingbar. "Es ist unsere Hauptaufgabe, uns einzufügen", sagt die Bratscherin Bettina Rühl von den Philharmonikern Hamburg. "Man braucht eine hohe Einfühlung." Den subkutanen Abstimmungsprozess beschreibt sie als ein zutiefst verbindendes Erlebnis: "Das läuft ohne Worte. Wenn alle durchlässig sind, dann erfasst ein Impuls die ganze Gruppe. Der kann auch mal von den hinteren Pulten ausgehen."

Das klingt nach Flow, Erfüllung, Glück. "Für mich gibt es nichts Schöneres, als gemeinsam einen Klang zu formen", sagt der Oboist Thomas Rohde. Jedenfalls wenn man zu einem Orchester gehört, mit dem man den eigenen Idealen wenigstens hin und wieder nahe kommt. Mancher Musiker indes empfindet eine solche Traumstelle eher als Notlösung. "Du hast Abitur?", fragte einst ein altgedienter Flötist entgeistert seinen jungen Kollegen Matthias Perl. "Wenn ich das geschafft hätte, dann säße ich nicht hier."